Essen. . Die Essenerin Maria Neu (91) erlebte als DRK-Schwester vor 70 Jahren die Schlacht an der Wolga. Sie hatte sich damals freiwillig an die Front gemeldet, gleich nach der DRK-Ausbildung zur Hilfsschwester. Später wurde sie verschleppt, kehrte erst 1956 zurück.

Ferngesehen hat sie gar nicht in den letzten Wochen. Nicht einen der Berichte über Stalingrad, über den Krieg. Warum sollte sie auch, ihr Gedächtnis funktioniert noch ausgezeichnet, es kann ihr mehr Erinnerungen an diese Zeit liefern, als ein Mensch gebrauchen kann. Maria Neu wird 92 im März, sie lebt in einem Altenheim in Essen, sitzt meist im Rollstuhl. Den fährt sie jetzt im Gemeinschaftsraum an den Kaffeetisch, trinkt einen Schluck und beginnt zu erzählen.

Zunächst von Stalingrad. Sie hatte sich damals freiwillig an die Front gemeldet, gleich nach der DRK-Ausbildung zur Hilfsschwester. Sie ist Anfang 20 und will nur weg aus dem strengen Elternhaus, in dem der Vater mit der „siebenschwänzigen Katze“ ein strenges Regiment führt. Doch gleich die Bilder der ersten Tage schockieren die junge Frau tief: Etwa von den hundert toten oder sterbenden Pferden am Wegesrand, von den in Papiersäcken eingenähten Soldatenleichen, von den 3000 Verwundeten, um die sich die 15 Schwestern kümmern mussten, von der deprimierenden Arbeit in der Infektionsabteilung mit Cholera und Fleckfieber. „Das war so heimtückisch. Gerade hast du den Mann noch gefüttert, zehn Minuten später gehst du vorbei und er ist tot.“

Noch wissen sie nicht, dass ihre ganze Armee eingekesselt ist

Im Lazarett wissen sie noch gar nicht, dass die 6. Armee eingekesselt ist. „Dann kam nachts der Alarm, schnell die Patienten in den Krankenwagen gebracht, alle übereinander, wir Schwestern haben uns nur irgendwie festgehalten.“ Am Flughafen haben 32 von ihnen das Glück, noch von einer Ju 52 mitgenommen zu werden.

Maria Neu fällt dazu eine Geschichte ein. „Viele Jahre später saß ich in Essen beim Kaffeetrinken mit Nachbarn zusammen, plötzlich stellt sich raus, dass einer von ihnen der Pilot der Maschine war. Hans Scheidt von dem großen Bauernhof bei uns. Was für ein Zufall.“

Sie erlebt den langen Rückzug der Deutschen. Von Lazarett zu Lazarett. Wieder Tote, wieder Sterbende. Schließlich die Heimkehr nach Deutschland. Kurz nach Kriegsende, im Herbst 1945, begleitet Maria Neu als DRK-Schwester eine Gruppe Soldaten, die im Zug in die sowjetische Kriegsgefangenschaft gebracht werden sollen. In einem Lager an der russischen Grenze wird sie einer anderen Gruppe rückkehrwilliger Familien zugeteilt und Richtung Osten geschickt, noch nicht ahnend, dass die Reise elf Jahre dauern wird.

Jetzt beginnt die Odyssee der Maria Neu. Sie muss hart arbeiten, muss im Sägewerk in Eimern Wasser für die Dampfmaschinen aus dem zugefrorenen Fluss anschleppen („Oben angekommen war das Wasser wieder gefroren“), sie wird im Straßenbau eingesetzt, spricht nicht ohne Stolz davon, dass sie in Kotlas am Polarkreis praktisch den gesamten Marktplatz mit eigenen Händen gepflastert hat.

Sie lernt Russisch und die Tricks der Armut. „Läuse kriegst am besten kaputt, wenn du deinen Mantel über einen verschwitzten Pferderücken legst.“ Sie findet am Leben sogar Gefallen. „Wenn ich an die Sommernächte im Norden denke, bekomme ich noch immer ein bisschen Heimweh.“

Dunkelhaft und Verhöre

Dann aber macht sie einen Fehler. Sie erhält ein Päckchen mit Plätzchen aus der amerikanischen Zone, antwortet und listet im Brief die Nummern gefallener deutscher Soldaten auf. Spionage-Verdacht. Sie wird interniert. Einzelhaft, Dunkelhaft. Verhöre. Schließlich wird sie gefoltert, medizinische Versuche werden an ihr vorgenommen, Elektroschocks, Zähne werden ohne Narkose gezogen, Hypnose-Versuche. Nicht vorstellbare Qual. Ihr Gehirn schaltet sich aus, jedenfalls auf Zeit.

Maria Neu auf einem Familienfoto vor rund 70 Jahren.
Maria Neu auf einem Familienfoto vor rund 70 Jahren.

Als sie am 6. März 1956 das Durchgangslager Friedland betritt, spricht sie kein Wort Deutsch mehr. Ihr Vater lebt noch, er steckt die Tochter zunächst in die Psychiatrie in Münster. Wieder Elektroschocks. Auch der Vater stirbt, Maria erholt sich nur langsam, Familienangehörige nehmen ihr das Erbe, nutzen sie aus, eine kurze Ehe scheitert, der Mann trinkt.

Das Glück kommt erst 1962. Da pachtet sie ein kleines Grundstück in Essen, das sie zu einem Dornröschengarten verwandelt. 45 Jahre lang pflanzt und hegt sie, versorgt die Kinder in der Nachbarschaft mit Obst und Ratschlägen. Maria Neu hat endlich ein Zuhause, das ihr erst das Alter wieder nimmt. Mit fast 90 reicht die Kraft nicht mehr, sie zieht ins Heim, sitzt im Rollstuhl, strickt so gerne... und erinnert sich.