Essen. . Zahl der ADHS-Diagnosen laut Krankenkasse sprunghaft gestiegen. 2,4 % der Schüler nehmen Medikamente.

„Ich möchte doch nur, dass die Kinder ihren Weg machen“, sagt Jörg Veutgen. Der Familienvater und seine Frau organisieren in Essen eine Selbsthilfegruppe für Betroffene der Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Die Resignation in Veutgens Stimme rührt von der jüngsten Untersuchung her, die sich mit dem häufig als „Zappelphilippsyndrom“ bezeichneten Phänomen beschäftigt. Die Zahl der Kinder, bei denen ADHS festgestellt wird, ist demnach in den vergangenen fünf Jahren deutlich gestiegen. Und: Die Macher des Reports legen einen Zusammenhang zwischen dem Elternhaus und der Wahrscheinlichkeit einer Diagnose nahe.

Bei 4,1 Prozent ihrer Versicherten unter 19 Jahren wurde vergangenes Jahr ADHS diagnostiziert, so die Barmer GEK. 2006 waren es 2,9 Prozent, das bedeutet ein Plus von 42 Prozent. In Essen ist der Sprung noch etwas deutlicher: von 2,8 auf 4,6 Prozent. Während die Zunahme nur in ihrem Ausmaß überrascht, ist das Neue an dem Report der verstärkte Blick auf die Eltern. Je bildungsferner und jünger sie sind, so die vorsichtige Schlussfolgerung der mit der Analyse der Versichertendaten beauftragten Wissenschaftler, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass bei ihrem Kind ADHS festgestellt wird.

Selbsthilfegruppe mit 100 Mitgliedern

„Jetzt heißt es wieder, wir könnten unsere Kinder nicht erziehen“, sagt Veutgen, „diese Krankheit wird immer noch stigmatisiert.“ In der Essener Selbsthilfegruppe haben sich 100 Eltern zusammengeschlossen. „Viele davon sind an den Grenzen ihrer Belastbarkeit.“ Gemeinsam wehren sie sich gegen die These, sie suchten in ihrer Hilflosigkeit nach einer Schublade, in die sie die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder einsortieren könnten und fänden im Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom die ersehnte Antwort. ADHS als Modeerscheinung – so die Lesart manches Beobachters.

Tatsache ist: ADHS lässt sich nur schwer diagnostizieren. „Das fängt nicht irgendwo eindeutig an und hört irgendwo eindeutig auf, es ist ein Kontinuum von Symptomen“, sagt Professor Johannes Hebebrand, Ärztlicher Direktor der Essener LVR-Klinik, die einen Schwerpunkt auf Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters hat. Bei der Diagnose hilft kein Blutbild und keine Röntgenaufnahme, Mediziner müssen eine Vielzahl von Faktoren betrachten und abwägen, um zu einem validen Ergebnis zu kommen. Deshalb dürfen inzwischen nur noch Spezialisten die Diagnose ADHS stellen, vorher war das auch jedem anderen Arzt unbenommen.

Möglicherweise falsche Diagnosen beunruhigen nicht zuletzt deshalb, weil damit die Frage nach dem Einsatz von Medikamenten einhergeht. Laut der Barmer GEK – die die Daten ihrer eigenen Versicherten hochgerechnet hat, aber keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt – hat auch die Verschreibung von Arzneien mit dem Wirkstoff Methylphenidat, zum Beispiel Ritalin, zugenommen. In Essen bekamen demnach vergangenes Jahr 2,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen Tabletten, 2006 waren es 1,5 Prozent.

Manchem gibt das Anlass zu der Sorge, Eltern griffen bereitwillig zu Medikamenten, um ihr Kind ruhig zu stellen. Selbsthilfe-Organisator Veutgen weist das von sich. „Ich bin kein Pillenverfechter. Medikamente können nur eine Hilfe sein, wenn der Betroffene Schule oder Beruf nicht bewältigen kann.“ Ähnlich sieht es Klaus Peter Kleinsimon, Schulpsychologe und Leiter der Schulberatungsstelle. „In einigen Fällen kann es sinnvoll sein, eine Therapie durch Medikation zu stützten. Das Kind muss die Möglichkeit haben, Sozialverhalten neu zu lernen.“

Johannes Hebebrand warnt ebenfalls davor, Medikamente grundsätzlich zu verurteilen. Auch die Linderung von Symptomen habe ihren Wert. „Der Effekt ist zumindest kurzfristig hervorragend, etwa 70 Prozent der Kinder sprechen darauf an“, so der Experte für psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Er appelliert, neben der Diskussion über die angemessene Behandlung von ADHS und anderen Auffälligkeiten auch eine Diskussion darüber zu führen, unter welchen Bedingungen Kinder heute aufwachsen und lernen. „Wir lassen den Kindern immer weniger Freiräume und machen uns zugleich kaum Gedanken, wie wir für Entlastung sorgen können.“

Vergleichsweise viele Praxen, wenig stationäre Plätze

Die ambulante psychiatrische Versorgung für junge Patienten in Essen sei gut, sagt Niko Neuhoff, Obmann der niedergelassenen Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er spricht sogar von einer Überversorgung. Zwölf niedergelassene Ärzte mit entsprechendem Schwerpunkt gibt es im Stadtgebiet, zudem zehn niedergelassene Therapeuten.

Die Zahl der Praxen habe in den vergangenen 20 Jahren deutlich zugenommen, so Neuhoff. Auf einen Termin müsse man höchstens sechs Wochen warten, in besonders dringenden Fällen weniger. „Ich sehe absolut gar keine Notwendigkeit für weitere Niederlassungen.“ Freilich sind die bestehenden Praxen recht ungleich über das Stadtgebiet verteilt, mit einem deutlichen Schwerpunkt im Essener Süden. Zudem versorgen sie auch Patienten aus Nachbarstädten, in denen die Situation eine andere ist.

Vier bis sechs Monate Wartezeit

Eindeutig nicht ausreichend ist in Essen das stationäre Angebot, sagt Christoph Arning, Leitender Arzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Kliniken Essen Süd. Dort gibt es elf stationäre Plätze und sechs weitere in der Tagesklinik. Vier bis sechs Monate müssten Betroffene warten, bis sie unterkommen. „Es fällt schwer, die Leute wieder wegzuschicken.“ Das Angebot der Kliniken Essen Süd ist eines von zwei stationären in der Stadt, etwas mehr Kapazitäten hat die LVR-Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, dort gibt es 50 Plätze.

Essener ADHS-Netzwerkdümpelt vor sich hin

In Essen gibt es seit 2009 ein „ADHS-Netzwerk“ – zumindest theoretisch. Eine ganze Reihe von Akteuren, darunter das Gesundheitsamt, die Regionale Schulberatungsstelle, Erziehungsberatungsstellen, das Jugendpsychologische Institut und die Essener Fachkliniken, machten damals eine Bestandsaufnahme der örtlichen Angebote, unterschrieben eine Kooperationsvereinbarung und erstellten eine Broschüre.

„Ziel war es, Betroffenen eine möglichst gute Versorgung angedeihen zu lassen“, so Eckhard Hömberg, Leiter des Jugendpsychologischen Instituts. Schließlich erfordere ADHS eine „multimodale Behandlung“ – mit therapeutischer und medizinischer Betreuung, mit Elterntrainings, mit Absprachen in Schule und Kindergarten et cetera. „Nicht jeder kann alles.“

Seither ist es allerdings ruhig geworden um das Netzwerk. Was auch daran liegen mag, dass die niedergelassenen Ärzte sich offenbar jeweils ihre eigenen kleinen Netzwerke aufgebaut haben und deshalb wenig Interesse an der großen Runde hatten. Dieses Jahr soll die bisherige Arbeit des Essener ADHS-Netzwerks auf den Prüfstand.