Moral ist eine feine Sache, vor allem, wenn man sie nach eigenem Ermessen mal gebieterisch einfordert und mal großzügig erlässt. Das blieb bis zuletzt der wunde Punkt in der Argumentation derjenigen, die für die Umbenennung der zwei Rüttenscheider Straßen fechten und zu diesem Zweck aus Hans von Seeckt und Karl von Einem wahre Dämonen machten.
Natürlich ist vieles richtig, was über die beiden Generäle Kritisches gesagt wird. Beide sind typische Vertreter einer Zeit, in der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln galt, beide fremdelten stark mit der Demokratie der Weimarer Republik, beide blieben Monarchisten und Anhänger der Vorstellung von deutscher Großmacht, beide zogen falsche Lehren aus dem Ersten Weltkrieg. Sie sind deshalb auch keine „Helden“, aber wer hat das jemals behauptet? Und wie viele andere historische Persönlichkeiten gibt es auf Straßenschildern, die keine Demokraten waren, Kriege führten, Machtpolitik betrieben, Menschenrechte missachteten oder geistige Wegbereiter für linke oder rechte totalitäre Ideologien waren?
Bei Anlegen ähnlicher Maßstäbe wie bei von Seeckt und von Einem müssten mindestens einige Hundert runter von den Schildern. Das gäbe ein fröhliches Säubern einmal quer durch die lange deutsche Geschichte, in der Licht und Schatten nah beieinander liegen. Eindeutige politische Verbrecher sind unzumutbar, das ist klar. Bei allen anderen sollte man sich der Mühe einer Abwägung unterziehen. Dazu gehört auch der Versuch, sie vor dem Hintergrund ihrer Zeit zu verstehen.
Erstaunlicherweise muss man übrigens gar kein Demokrat sein, um bei den Essener Straßenumbenennern Gnade zu finden. Solange sie sich auf der richtigen Seite des politischen Spektrums bewegen, sind „falsche Helden“ nicht nur sicher, nein, sie können sich sogar anno 2012 (!) brandneuer Ehrungen erfreuen. Das Märtyrerschild für den kommunistischen Antidemokraten Philipp Müller an der Rüttenscheider Brücke könnte so auch in Ost-Berlin stehen - vor 1989 allerdings. Das peinliche Machwerk durchgedrückt haben die selben Politiker, die im Handstreich und gegen den Willen der meisten betroffenen Bürger die beiden Von-Straßen umbenennen wollen. Und um ein Haar wäre es gelungen, eine neue (!) Straße im Univiertel nach einem SED-Barden zu benennen.
Demokratie? Nein, hier geht’s um Ideologie, Macht und Deutungshoheit - und um sonst gar nichts. Es ist zu begrüßen, wenn Bürger sich gegen solche Anmaßung wehren.