Einer Studie zufolge leben in keiner westdeutschen Großstadt mehr Kinder in Hartz-IV-Familien als in Essen.So mancher zweifelt am Zustandekommen der Rangliste, doch das Problem wird ernst genommen

Ausgefranste Hosen können auch Ausdruck von Lässigkeit sein, doch vielen Kindern in Essen fehlt einfach das Geld für neue Kleidung. Foto: WAZ, Walter Buchholz
Ausgefranste Hosen können auch Ausdruck von Lässigkeit sein, doch vielen Kindern in Essen fehlt einfach das Geld für neue Kleidung. Foto: WAZ, Walter Buchholz © WAZ

Großstadt für Kinder will Essen sein - und bekam jetzt vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe das Etikett "Hauptstadt armer Kinder" aufgeklebt. In keiner anderen westdeutschen Großstadt lebten so viele Kinder von Hartz IV, heißt es in einer Studie, die die Bremer nun vorlegten. In Zahlen: 30,1 Prozent der Essener Kinder unter 15 Jahren leben in "Hartz-IV-Haushalten".

Ein wenig irritiert ist Heike Schupetta vom Essener JobCenter über die Art der Erhebung: "Bochum und Gelsenkirchen tauchen in der Studie gar nicht auf." Ziemlich willkürlich habe man nur Städte mit mindestens 400 000 Einwohnern untersucht, was Essen zu seinem traurigen Spitzenplatz verhalf. Doch die Zahl der betroffenen Kinder sei nicht zu leugnen, "insofern legt die Studie den Finger in eine Wunde". Wichtigster Ansatzpunkt des Job-Centers sei es, den Eltern der Kinder Stellen zu vermitteln sowie Kinderbetreuung zu organisieren. Ersteres sei schwierig in einer Stadt, der die Jobs in der Fertigung verloren gegangen seien, an Punkt zwei arbeite man gemeinsam mit der Verwaltung.

Das bestätigt Sozialdezernent Peter Renzel (CDU): "Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Insbesondere für die fast 7000 Alleinerziehenden, die derzeit Transferleistungen erhalten, ist das noch ein Riesenproblem." Die Stadt arbeite bekanntlich bereits am Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige; bis zum kommenden Jahr wolle man 20 Prozent von ihnen einen Platz zur Verfügung stellen.

Verstimmt ist auch Renzel, dass Essen nicht mit Städten verglichen wurde, die ähnliche Strukturprobleme haben. In Gelsenkirchen etwa lebten sogar 32,6 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Familien. "Trotzdem sind unsere Zahlen besorgniserregend, weshalb wir auch im 2008 vorgelegten Kinderbericht ein Gesamtkonzept mit dem Schwerpunkt Bildung beschlossen haben."

Bildung sei der Schlüssel, um kommende Generationen vor Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu bewahren, da stimmt SPD-Fraktionschef Reinhard Paß zu. Bloß beginne Bildung im Kindergarten. Daher sei es nicht hinzunehmen, dass die Stadt die U 3-Betreuung zulasten der Kita-Plätze für ältere Kinder ausbaue. "Jedes Kind ab drei hat ein Recht auf einen Kita-Platz, das heißt im Umkehrschluss: Die Stadt hat die Pflicht, ihm diesen zu bieten."

Damit nicht genug: Um Kinderarmut frühzeitig zu bekämpfen, müssten die "Baby-Erstbesuche" auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet werden. Dabei bekämen Familien wichtige Hilfestellungen - und die Verantwortlichen ein Bild, woran es fehle. Außerdem könnten sich Familienpaten um überlastete Familien kümmern. Zu guter Letzt müsse der kinderärztliche Dienst des Gesundheitsamtes ausgebaut werden, da es bei der gesundheitlichen Versorgung derzeit ein Nord-Süd-Gefälle gebe.

Ob Essen nun Platz eins einer Negativ-Rangliste belege oder hinter einer Nachbarstadt liege, findet OB-Kandidat Paß unerheblich. "Fatal ist die Tendenz, dass es immer mehr arme Kinder gibt. Unser gemeinsames Anliegen sollte sein, dass diese Kinder eine Chance bekommen und ihr Schicksal nicht an die nächste Generation vererben."