Wer sich dazu entschließt, Kinder in die Welt zu setzen, der entscheidet sich dafür, nicht mehr länger allein zu entscheiden, was im eigenen Leben passieren soll. Weil Kinder den Lebensweg in eine Richtung drehen können, die man vorher gar nicht gesehen hat. Wer das nicht als Störung begreift, sondern als Gewinn, der wird reich belohnt.
Wolfgang Sykorra (67) aus Schönebeck ist seit sechs Jahren im Ruhestand. Er könnte die Füße hochlegen, schließlich war er 19 Jahre Schulleiter am Gymnasium Borbeck. Er ruht sich aber nicht aus, sondern treibt entscheidend die Neugründung einer Schule voran, die die Evangelische Kirche plant: Die „Zukunftsschule“ soll 2014 starten, als Gesamtschule für Kinder mit und ohne Behinderungen, womöglich am Standort Frankenstraße, dort, wo jetzt die Gesamtschule Süd sitzt. Sykorra sitzt dem Initiativkreis vor, der seit Jahren diese Schule plant und realisieren will. Ob sie wirklich kommt, entscheidet die Kirche im Frühjahr 2013.
Sykorra ist das, was man umtriebig nennt: Arbeitet an einem Buchprojekt über ehemalige Borbecker, die es weggezogen hat aus dem Stadtteil. War lange Jahre Vorsitzender des Bürger- und Verkehrsvereins. Ist seit Jahrzehnten politisch aktiv, getrieben von Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Umweltschutzes. Man könnte es sich jetzt einfach machen und sagen: Da will ein Ex-Schulleiter eine neue Schule gründen, weil er einfach ohne Schule nicht kann.
Das stimmt aber nicht. Sykorra hat einen guten Grund, sich für die Etablierung einer Schule einzusetzen, die keinen Unterschied macht zwischen Schülern mit und ohne Behinderungen. Der Grund heißt Nicolai und ist heute 34 Jahre alt.
„Erst schien alles ganz normal“, erinnert sich Sykorra an die erste Zeit mit seinem Sohn. „Dann stellte der Kinderarzt bei einer Routine-Untersuchung fest, dass die Reflexe ausbleiben. Niemand hatte ihn bis dahin als behindert eingestuft.“ Das war ein erster Schock, doch eine richtige Diagnose sollte erst viel später folgen: Als Nicolai in die Schule kommen sollte, zeigte sich im ganzen Ausmaß das, was man heute als „Lernbehinderung“ bezeichnen würde. „Es war schnell klar“, sagt Sykorra, „dass eine reguläre Grundschule nicht in Frage kommt“.
Nicolai kam auf die Waldorfschule, musische Erziehung, kleine Klassen, „ich bin bis heute der Schule dankbar“, sagt Sykorra. Seine Frau Lore gab ihren Beruf als Grundschullehrerin auf, kümmerte sich nur noch um den Sohn mit seinen besonderen Bedürfnissen, außerdem kam noch ein zweiter Sohn, Mirko, heute 32, ein Kind ohne Behinderungen.
Nicolai wohnt heute in einer eigenen Wohnung und arbeitet selbstständig in einer Werkstatt der Gesellschaft für Soziale Dienste (GSE), verrichtet Garten- und Malerarbeiten. Wer ihm begegnet, trifft einen großen, sehr freundlichen, jungen Mann, der vielleicht etwas langsamer spricht, als man es selber für normal hält. Was nun die tatsächliche Ursache dafür ist, dass Nicolai mit einer Behinderung zur Welt kam, haben die Sykorras nie klären lassen. „Ganz bewusst nicht. Der Blick sollte nur nach vorn gehen.“ Wenn Sykorra sich jetzt stark macht für eine neue weiterführende Schule, die in Sachen Inklusion Maßstäbe setzen will, dann ärgert es ihn, wenn die Diskussion umgedreht werde: „Die anderen Schulen haben nicht versagt. Alle haben schon viel getan. Aber die inklusive Pädagogik steckt nun mal noch in den Kinderschuhen.“ Ihr da herauszuhelfen, ist ihm eine Herzensangelegenheit, und wer Sykorras Geschichte kennt, weiß jetzt auch, warum.