Tel Aviv und Essen pflegen eine gute Städte-Partnerschaft. Aber zwischen Tel Aviv und Werden gibt es noch mehr: eine Freundschaft der nicht alltäglichen Art. Sie besteht aktuell seit 1998, aber ihre Vorgeschichte reicht zurück bis ins Jahr 1944, als die jüdische Familie Ganz von den Nazis aus Ungarn nach Deutschland deportiert wurde. Vater Laszlo und Sohn Nico wurden im KZ umgebracht, Mutter Bella und ihre 16jährige Tochter Renée kamen nach Ostpreußen, wo sie bei der Bauernfamilie Hermann und Luise Staehs zwangsarbeiten mussten. Doch der Bauer war kein Nazi. Und seine Tochter Marianne, gleichaltrig mit Renée, schloss Freundschaft „für ewig“ mit dem jüdischen Mädchen.
Dann rückte die russische Front näher. Die Deutschen flohen nach Westen, wurden in Dänemark interniert, erlebten schlimme Dinge an Hass und Demütigung.
Bella und Renée gelangten auf abenteuerlichen Wegen nach Ungarn, von dort später nach Israel. Renée heiratete und zog mit ihrem Mann Gabor nach Tel Aviv.
Marianne kam nach dem Krieg nach Essen, später nach Werden, mit ihrem Mann Rudi Rademacher, der bei Krupp Chef-Dolmetscher wurde. Marianne dachte oft an Renée, aber sie glaubte, diese habe den Krieg nicht überlebt.
In Tel Aviv aber setzte Renée alle Hebel beim Internationalen Roten Kreuz in Bewegung, um Marianne zu suchen. Fast 50 Jahre lang suchte sie. Als das Rote Kreuz endlich die Spur nach Werden fand, war Marianne tot. Sie liegt auf dem Friedhof an der Kirchhofsallee beerdigt.
Als Renée das erfuhr, kam sie mit Gabor nach Werden, legte einen Gedenkstein aus Jerusalem auf das Grab und sagte: „Dieser Stein ist ewig wie unsere Freundschaft“.
Rudi ließ den Stein in die Grabdekoration einbauen. Inzwischen starb auch er und fand ewige Ruhe unter dem jüdischen Stein. Inge Rademacher, Rudis zweite Frau, pflegt das Grab und sie weiß, auch sie wird hier ihre letzte Ruhestätte finden.
Und eine Anekdote am Rande
Seit 14 Jahren gehen zwischen Werden und Tel Aviv Briefe, Mails und Telefonate hin und her. In die Freundschaft wurde die Journalistin mit einbezogen, die 2001 die Geschichte in die Öffentlichkeit brachte. Ein Anekdote am Rande: Beim Austausch von Küchenrezepten bekam Renée auch das Backrezept von Großmama Lenchen Hammacher, das Renée in ihrem ganzen Kreis weitergab. So kam es, dass mittlerweile halb Israel die traditionellen Werdener Appeltaten backt...
Die aktuelle politische Situation: Unruhen, wieder einmal. Und Raketenbeschuss auf Tel Aviv. Die Gefahr eines neuen, schrecklichen Krieges muss die Menschen in Israel vor Entsetzen lähmen. So sorgt man sich in Werden trotz der derzeitigen Waffenruhe. Bei Gesprächen am Telefon hörte man in den vergangenen Wochen als Nebengeräusch die Sirenen der Ambulanzen. Doch Gabor - in seinem fehlerfreien guten Deutsch - sagt auf unsere bange Frage: „Ach, das ist doch hier immer so“. Sie würden „das schon aushalten, die Kinder gehen zur Schule und wir Erwachsenen gehen unseren täglichen Geschäften nach“.
Und dann fragt er noch: „Ihr habt doch jetzt in Deutschland eine Grippewelle – hast du auch genug Vitamin C im Haus?“ Es hat mich sehr beschämt. Und dann fragt man sich selbst: Tut man eigentlich genug für Israel?