Essen.. Sparen für ein gebrauchtes Rad, zu Weihnachten ein Überraschungsei: Fast jedes dritte Kind in Essen lebt in einer Familie, die Grundsicherung erhält. Von ihrem Alltag erzählen sie im Bürgerhaus Oststadt. Felix (9) beispielsweise will keine Kleider mehr vom Flohmarkt tragen, die vor ihm andere Kinder an hatten.

Essen ist die einzige der größten 15 Städte Deutschlands, in der von 2005 bis 2011 die Zahl der Menschen, die von Hartz IV und anderen Leistungen der Grundsicherung leben, gestiegen ist: 2011 auf 18,1 Prozent (2007: 17,7 %).*

Sabine Martens** kommt mit dem Geld meistens hin: „Ich kalkuliere ständig. Aber es gibt Tage, da wird’s knapp“, sagt die 30-Jährige, die ihre Söhne (4 und 8) allein erzieht. Sie steckt zurück, so bleibt mehr für die Kinder. Beim Einkaufen darf sich jeder ein Teil aussuchen: „Es geht halt nicht immer alles, das sage ich ihnen auch“. Oft tut ihr das leid. Mit anderen Leuten spricht sie nicht über ihre finanzielle Lage. Und wenn der Kleine sich ein Fahrrad zu Weihnachten wünscht („groß und gelb“), legt sie monatelang Geld zurück, kauft ein gebrauchtes. So wie sie das bei Kleidern längst macht. Wichtig ist aber, dass „die Jungs vernünftig rumrennen.“ Ihre Mutter geht bald wieder arbeiten. Friseurin hat sie gelernt, nun wird es ein Job im Verkauf: 1,25 Euro die Stunde, drei Stunden täglich. Mehr Geld werden sie nicht haben, sie wird weiter zum Jobcenter müssen: „Es ist eine Maßnahme. Besser als nichts.“

In Essen leben 21 529 Kinder unter 15 Jahren in Familien, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind. Das sind ca. 30 Prozent. Bei den unter Dreijährigen sind es knapp 32 Prozent: 4440 Kinder. Nur in Berlin liegen die Zahlen höher.*

Sebastian** (6) hat sich daran gewöhnt, dass es nicht das Spielzeug gibt, das er sich wünscht wie die Spielfiguren. Er findet sie cool, seine Mutter sehr teuer. Ob sie arm sind, weiß er nicht genau, sagt er schüchtern, hält ein Dino-Memory in Händen. Das hat er im Bürgerhaus geschenkt bekommen. „Er merkt schon, dass wir kein Geld haben“, sagt seine Mutter. Sie sagt ihm das auch: „Mein Mann geht arbeiten, manchmal reicht es trotzdem nicht. Wir sparen schon an Kleinigkeiten“. Sie leben unter der Armutsgrenze. Beim Einkaufen suchen sie ständig Angebote statt Mozartkugeln: „Sebastian versteht das.“

In Essen können 13 060 Menschen nicht von ihrer Arbeit leben. Sie erhalten ergänzend zum Einkommen Leistungen vom Jobcenter. Die meisten von ihnen sind Minijobber. 1246 sind selbstständig.*

Anja Kortes** Mann arbeitet Vollzeit im Pizza-Imbiss und stockt auf, weil es für die fünfköpfige Familie nicht reicht. Mike (7) war kürzlich total enttäuscht: Sein Freund bekam Lego, er nicht. „Das ist richtig teuer“, sagt die Mutter und erklärte, dass es Kinder gibt, denen es noch schlechter geht. „Die haben kein Wasser“, weiß Felix (9) nun, der dennoch keine Kleider mehr vom Flohmarkt tragen will, die vor ihm andere Kinder an hatten. „Ich wasche sie, dann sind sie sauber und frisch“, hat seine Mutter ihn überzeugt. Manchmal schämt sie sich, es tut ihr weh, immer nein sagen zu müssen. Einmal hat sie doch Markenklamotten für die Jungs gekauft: „Ich habe 100 Mal überlegt, es gab ein Sonderangebot.“ Zwei Adidas-Pullis für 60 Euro. Die Schuhe, die Mike wollte, gab es nicht, 30 Euro waren zu viel, beim Discounter zahlte sie 10. „Winterschuhe sind Winterschuhe“, sagte sie. Und: „Wenn ihr groß seid, könnt ihr alles kaufen. Ihr müsst schön lernen, dann bekommt ihr einen guten Job.“ Sie verstehen das, glaubt auch sie.

In Essen ist die Armutsgefährdungsquote sprunghaft gestiegen: 2007 lag sie bei 12,6 Prozent, 2011 bei 19,8. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat (Alleinstehende 848 Euro), der lebt unterhalb der Armutsgrenze.*

Melanie ist ein bescheidenes Kind, ihren Wunsch zu Weihnachten hat sie gemalt: ein Überraschungsei. Ihre Mutter spart, indem sie Fixkosten wie Versicherungen gering hält, sagt die 46-Jährige, die drei Kinder groß gezogen hat. Mit Melanie war sie nach langem Sparen beim Tabaluga-Musical. „Im Alltag sparen wir viel, die Kleider sind gebraucht“, sagt sie, das Essen soll aber gesund sein. Da es für den Bio-Bäcker nicht reicht, kaufen sie Körner beim Bauern und backen. Die Mutter hat ausgerechnet, dass sie zu dritt etwa 2000 Euro vom Amt bekämen, „wir wollen uns aber nicht gängeln lassen.“ Ihr Mann arbeitet. „Ich kann das vergessen“, die Umschulung zur Fachinformatikerin ist Jahre her. Irgendwie geht’s, sagt sie, umarmt Melanie: „Arm kann ich gar nicht sein, ich hab’ ja die Kleine.“

Der Beratungsbedarf ist explodiert

Für Sven* (7) bedeutet Armut: „kein Geld zu haben“, so wie Sven antworten viele Kinder beim Besuch im Bürgerhaus Oststadt. „Manche haben nichts zu essen“, sagt Carolin* (6), die sich sehr eine Barbie-Puppe wünscht. Sie hat verzichtet: „Papa hat gesagt, dass wir dann vielleicht nächstes Jahr in den Urlaub fahren können.“ Die zwölfjährige Vivian* kennt auch den Begriff Hartz IV: „Da kriegen arme Familien Geld.“

Der Beratungsbedarf bei diesen ist extrem geworden, fasst Erika Biehn ihre Situation in der benachbarten Anlaufstelle des Verbandes für Alleinerziehende zusammen: „Der Zulauf ist explodiert.“

Sichtbare Probleme

Die Leiterin der Ortsgruppe berät bei Fragen zu Harz IV und bietet beispielsweise Selbstbewusstseins-Training vor allem für alleinerziehende Mütter an. Die verzichten meistens auf Vieles, sagt Erika Biehn. Verzichten müssen die meisten auf Urlaub und Kinder auf Taschengeld, sagt sie. Manche Eltern verstecken die Armut vor den Kinder, andere sagen es offen. Manchmal spüren Kinder es aber oder merken es dann, wenn „die Mutter völlig fertig ist, weil wieder kein Geld für die Miete da ist“, sagt Erika Biehn, die weiß, dass es sehr schwierig ist, die vorgegebene Höhe der Kaltmiete einzuhalten: „Vor allem, wenn Familien etwa wegen der Sozialkontakte in ihrem Stadtteil bleiben wollen.“ Es gibt sie, die sichtbaren Probleme, sagt Erika Biehn, die von einer Mutter berichtet, deren Kind die schwierige finanzielle Lage erlebte und psychisch erkrankt ist: „Ein hochsensibler Junge“, beschreibt Erika Biehn das Kind. Sie selbst ist jetzt auf dem Weg nach Brüssel zum Treffen einer Arbeitsgruppe: Es geht um Kinderarmut.

Derweil falten Manuela Cagnavati und Helga Vogel Hosen, Jacken und Hemden, packen sie in Tüten und kassieren: Zwei Euro kostet etwa ein gebrauchter und gut erhaltener Pullover in der Kleiderbörse im Bürgerhaus. Stammkunden kommen schon seit Jahren zu ihnen, aber inzwischen auch viele neue Gesichter. „Wir haben in letzter Zeit enorm viel zu tun“, sagen die Frauen, während eine Großmutter ihnen Kinderpullover reicht, den sie ihrem Enkel schenken will: den gibt es hier für 1,50 Euro.

Regelsatz und Mehrbedarf:

In Essen leben laut Jobcenter 82.095 Menschen von Hartz IV (Stand Juli 2012). Eine alleinerziehende Mutter erhält den vollen Regelsatz: 374 Euro, ab Januar 382 Euro.

Kinder bis sechs Jahre erhalten 219 Euro, bis 14 Jahren 251 Euro, bis 18 Jahren 287 Euro. Volljährige bis 25 erhalten 299 Euro, wenn sie bei den Eltern leben.

Das Jobcenter übernimmt Kosten für die Kaltmiete, die beim Zwei-Personenhaushalt bei bis zu 299 Euro liegen dürfen, hinzu kommen Betriebs- und Heizkosten.

Bei Alleinerziehenden kommt ein sogenannter Mehrbedarf hinzu: Für ein Kind unter sieben Jahren beträgt dieser 36 Prozent der Regelleistung, danach 12 Prozent.

*Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
**Name geänder
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