Die bauliche Entschlüsselung des Stadtbilds ist eine Leidenschaft, die der Historiker Robert Welzel schon lange pflegt und der schon viele lokalhistorische Erkenntnisse zu verdanken sind. Im jüngst erschienenen 124. Band der „Essener Beiträge“, die der Historische Verein für Stadt und Stift Essen herausgibt, hat Welzel im Hauptaufsatz des Buches ein weiteres, bisher weitgehend unbekanntes Kapitel der Essener Geschichte aufgeschlüsselt: Das bauliche Wachstum der Stadt zwischen 1850 und 1929 mit den Essener „Häuserkönigen“ als aktiven Unternehmern.

Wer hier nur an Krupp denken würde, läge falsch. Neben dem Stahlunternehmen und den Zechengesellschaften haben im Laufe der Jahrzehnte rund 700 oft sehr ortsansässige Bauunternehmer das Stadtbild geprägt, 80 stellt Welzel im Buch vor.

Ob ihre Arbeit immer zum Schönen gelang, ist allerdings eine andere Frage. Wer Essen mit Städten wie Berlin, München oder mit Abstrichen auch Düsseldorf vergleicht, stellt schnell fest, dass selbst die erhaltenen Altbauten bei uns selten das Prädikat „prachtvoll“ verdienen. Der Grund liegt auf der Hand: Das Bauen musste nicht nur schnell gehen, als ab etwa 1850 Arbeitssuchende vor allem aus Ostdeutschland nach Essen drängten, um bei Krupp oder in einer der vielen, gerade entstehenden Zechen anzuheuern. Es gab auch so gut wie kein Großbürgertum, das sich Zimmerfluchten, wie sie etwa in Berlin bis heute üblich sind, hätte leisten können.

Standardisierung auf meist niedrigem architektonischen Niveau war in Essen die Folge. Das heißt allerdings nicht, dass sich mit Bauen kein Geld verdienen ließ. Sowohl den „Millionenbauern“, die ihre stadtnahen Äcker buchstäblich vergolden konnten, als auch den Bauunternehmern selbst ging es im allgemeinen sehr gut. Im Essener Rat und mehr noch in den damals selbstständigen Gemeinderäten etwa in Rüttenscheid, Altenessen oder Altendorf spielten sich diese oft alteingesessenen Bürger die Bälle zu, um ihre Interessen durchzusetzen. Es galt, Bauland um (fast) jeden Preis zu schaffen. Nur wenige elementare Bauvorschriften waren zu beachten, und selbst diese versuchte mancher zu umgehen. So war es in Essen nicht erlaubt, enge Hinterhof-Situationen wie etwa in den Berliner Arbeitervierteln zu bauen. Doch der Reiz war groß, ein Grundstück doch so weit auszunutzen, dass schlecht gelegene Wohnungen von Licht und Luft wenig sahen.

Gespart wurde auch beim Sanitären. Heute unvorstellbar, aber die ab etwa 1900 übliche Toilette „auf der halben Treppe“, die sich zwei Familien teilen mussten, war ein Fortschritt. Welzel hat Fälle recherchiert, wo sich ganze Häuser mit mehren Dutzend Bewohnern eine einzige Hoftoilette teilten. Wer Welzels Aufsatz liest, wird jedenfalls nicht mehr behaupten wollen, dass „früher alles besser“ war.