Essen. Angesichts einer um 150 Prozent gestiegenen Flüchtlingszahl wird die Debatte über die Unterbringung der Menschen zunehmend hitzig und oft auch unsachlich geführt. NRZ-Redakteur Jörg Maibaum sprach mit Sozialdezernent Peter Renzel über die momentane Situation in der Stadt.

Rund 150 der zurzeit in Essen untergebrachten Roma sind ausreisepflichtig, weil ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Doch die Stadt geht nach ihren bisherigen Erfahrungen davon aus, dass die Ausländerbehörde dennoch Probleme bekommen wird, die Menschen abzuschieben. In Einzelfällen ist sogar von dauerhaften Duldungen die Rede. Läuft da was schief?

Das stimmt, Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt wurde, sind zur sofortigen Ausreise verpflichtet. Wenn sie das nicht freiwillig tun, droht ihnen die Abschiebung. Allerdings werden häufig Abschiebehindernisse geltend gemacht, wie beispielsweise Krankheit oder ein verlorener Pass. Das verzögert dann die Ausreise. Letztlich kehrt ein Großteil zum Frühjahr aber wieder zurück in die Heimat.

Wie wäre eine Rückführung zu beschleunigen?

Peter Renzel: Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr Personal – die sogenannten „Einzelentscheider“ – einsetzen würde, könnten die Asylverfahren auch viel schneller zum Abschluss gebracht werden. Im Moment dauert es einfach zu lange. Das verlängert leider auch den Aufenthalt in den Unterkünften in unserer Stadt.

Essen und viele andere Kommunen müssen Unterkünfte aus dem Boden stampfen und in Zeiten knapper Kassen zusätzliche Millionen für Gebäude und Asylbewerberleistungen ausgeben. Warum ist die Unterbringung eine nahezu exklusive städtische Aufgabe?

Renzel: Das steht so im Flüchtlingsaufnahmegesetz des Landes NRW. Die Gemeinden sind zur Aufnahme und Unterbringung verpflichtet. Als gerecht empfinde ich das nicht, weil tatsächlich ein großer Teil der Lasten bei uns, den Städten und Kreisen, abgeladen wird. Im letzten Jahr haben wir für die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz insgesamt rund 13,2 Millionen Euro ausgegeben, das Land hat uns aber nur 1,1 Millionen Euro erstattet.

Gibt es Bestrebungen daran etwas zu ändern, etwa über den Städtetag?

Renzel: Natürlich habe ich auch den Städtetag gebeten, mit uns als Kommunen beim Land und beim Bund auf Änderungen zu drängen. Aber das wird nicht so schnell gehen. Die steigenden Kosten belasten die kommunalen Haushalte enorm. In Essen und in NRW ist dies derzeit aber ausschließlich auf die massive Steigerung der Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien zurückzuführen. Deren Regierungen bemühen sich viel zu wenig bis gar nicht, der Bevölkerungsgruppe der Roma einen sicheren Zugang zu Bildung, Arbeit und zur gesundheitlichen Versorgung zu erschließen.

Also ist die Kommune zum Nichtstun verdammt?

Renzel: Nein. Ich überlege, zu Beginn des Jahres mit Vertretern der Auslandshilfe der Caritas – möglichst auch mit Vertretern aus dem Städtetag – nach Serbien und Mazedonien zu reisen. Dort würde ich mir gerne ein Bild davon machen, ob wir kommunale Möglichkeiten der Unterstützung von Veränderungsprozessen vor Ort haben.

Was könnte denn konkret und zeitnah verändert werden?

Renzel: Der Bund muss die Asylverfahren beschleunigen. Das Land NRW kann aber auch gestalten. Es könnte das Flüchtlingsaufnahmegesetz verändern. Alle Flüchtlinge sollten so lange in landeseigenen Unterkünften untergebracht bleiben, bis Klarheit herrscht, ob der Asylantrag nicht zeitnah durch das Bundesamt abgelehnt wird. Die Ausreise oder die Rückführung dieser Flüchtlinge in das Heimatland kann aus den zentralen landeseigenen Unterkünften viel schneller und reibungsloser organisiert werden. Alle anderen Flüchtlinge sollten weiter auf die Kommunen verteilt werden. Mit dieser Maßnahme, die unsere Landesregierung sofort umsetzen könnte, würden mit Einschränkungen auch die Kosten gerechter verteilt.

Inzwischen scheint es allgemeiner Konsens zu sein, dass die seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes deutlich höheren Leistungen der eigentliche Grund für die deutlich gestiegene Zahl der Asylbewerber aus Mazedonien und Serbien ist, die weniger politischer Verfolgung als Armut und Diskriminierung in ihren Heimatländer entkommen wollen. Um weniger Anreize für eine Einreise zu bieten, denken Teile der Politik bereits darüber nach, künftig nur noch Sachleistungen gewähren zu wollen. Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Renzel: Im Gesetz ist es grundsätzlich so vorgesehen, dass die Grundleistungen wie die Unterkunft und Heizung, Ernährung, Gesundheits- und Körperpflege, sowie die Kleidung als Sachleistungen zu gewähren sind. Weiter schreibt das Gesetz ein geringes monatliches „Taschengeld“ vor. Die meisten Kommunen in NRW gewähren die Grundleistungen aber über Barleistungen, weil die Organisation der Sachleistungen sehr aufwendig ist.

Es geht auch um die Kosten, oder?

Renzel: Ob die Versorgung mit Sachleistungen für die Kommunen billiger beziehungsweise wirtschaftlicher ist, kann man sicher nicht pauschal sagen. Viel zu wenig wird aber meines Erachtens öffentlich darüber diskutiert, dass die Sicherstellung einer regelmäßigen und gesunden Ernährung von viel entscheidenderer Bedeutung für die Gesundheit der Flüchtlinge, insbesondere für die Kinder und Jugendlichen, ist. Das gilt in besonderer Weise für die Armutsflüchtlinge aus Serbien und Mazedonien, die immer auch mit vielen Kindern nach Deutschland kommen. Insbesondere deshalb bin ich für eine sehr differenzierte Betrachtung der Frage der Sachleistungen. In diesem Sinne können diese Sachleistungen ja durchaus auch als Chancen für die Kinder und Jugendlichen gesehen werden.

Was heißt das, differenzierte Betrachtung?

Renzel: Ich bin der Auffassung, dass wir, so lange das Land für die Armutsflüchtlinge keine landesweiten zentralen Unterkünfte schafft und das Verfahren und die Ausreise zentral vom Land gesteuert werden, die Frage auf der kommunalen Ebene differenziert organisieren müssen. Die Armutsflüchtlinge müssen unter allen Umständen menschenwürdig untergebracht und gesund versorgt werden.Die Menschen, die jedes Jahr nur wenige Wochen oder Monate bei uns sind, sollten wir über Sachleistungen versorgen und das vorgesehene Taschengeld in bar oder per Scheck auszahlen. Flüchtlingen, die länger bei uns bleiben – in Essen aus insgesamt 30 Ländern – sollten wir wie bisher die Grundleistungen als Geldleistung gewähren. Deren Selbstversorgung in den Übergangswohnheimen und in Wohnungen ist gut organisiert.

Etwa 50 Prozent der in Essen lebenden Roma sind Kinder. Das stellt die Stadt vor zusätzliche Herausforderungen. Wie wird zum Beispiel die Schulpflicht, wie die ärztliche und soziale Betreuung gewährleistet?

Renzel: Wir bemühen uns sehr, gemeinsam mit der Schulaufsicht und den Schulen, den Kindern, so lange sie in Deutschland sind, gute Schulbildung zukommen zu lassen. Die soziale Betreuung der Familien wird durch die Wohlfahrtsverbände und den ASD erbracht, inklusive der Sprachmittler, auch das muss die Stadt finanzieren. Die ärztliche Grundversorgung ist über das Sozialamt sichergestellt – nicht nur für die Kinder, sondern für alle Familienmitglieder.

Es ist mehr als eine Vermutung, dass die Familien auf ihrem Weg vom Balkan nach Essen von kriminellen Schleusern begleitet werden, die ihnen auf dem Sozialamt an der Steubenstraße Tipps geben, wie sie möglichst schnell an ihr Geld kommen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Menschen das Geld, auf das sie einen gesetzlichen Anspruch haben, an die zahlen müssen, die sie nach Deutschland gebracht haben. Gibt es belastbare Hinweise auf solch einen Missbrauch staatlicher Leistungen? Sind womöglich Strafanzeigen seitens der Stadt gestellt worden?

Renzel: Nein, bisher noch nicht. Aber wenn wir konkrete Feststellungen haben, werden wir das auf jeden Fall zur Anzeige bringen.