Weil es für die 14 Monate alte Janneke in Essen keine Betreuung gab, planen ihre Eltern einen Umzug nach Köln – obwohl sie sich in Essen wohl fühlen. Die Stadt kennt das Problem und arbeitet mit Hochdruck am Ausbau der Kita-Plätze.

Essen. Kitas sind ein Standortfaktor - der Satz gehört heute zum Textbaukasten jeden Lokalpolitikers. Swantje Heinemeier und ihr Ehemann Lars Gräßer (beide 42) sind der lebende Beweis für diese These: Weil sie für ihre 14 Monate alte Tochter Janneke keine geeignete Betreuung gefunden haben, sind sie nun auf dem Absprung nach Köln. Dort besucht Janneke jetzt die Betriebs-Kita des WDR, für den ihre Mutter arbeitet. Zugespitzt kann man sagen: Die schrumpfende Stadt Essen verliert wegen ihres mangelhaften Betreuungsangebotes drei Einwohner.

So zugespitzt würde es das Ehepaar aber nie sagen. Sie wissen, dass die kleine Janneke noch keinen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz hat, sie wissen auch, dass ihr Fall speziell ist. Er zeigt trotzdem, mit welchen Widrigkeiten Eltern zu kämpfen haben, die mit dem Auslaufen des Elterngeldes wieder beide arbeiten wollen. Dabei waren die beiden die Elternschaft entspannt angegangen: Nach vielen Jahren Pendel-Ehe zog Swantje Heinemeier erst im Mai 2011 hochschwanger von Köln nach Essen. Einen Monat später kam Janneke zur Welt.

„In den Kitas fühlte man sich wie im Bewerbungsgespräch“

Lars Gräßer fuhr weiter zu seinem Arbeitsplatz in Marl, Swantje Heinemeier ging für ein Jahr in Elternzeit. Als Janneke fünf Wochen alt war, kam der Babybesuchsdienst, „und die nette Frau fragte gleich: ,Wie - Sie haben sich noch bei keiner Kita angemeldet?’ Da hatte ich ein schlechtes Gewissen und hab’ mir unheimlichen Stress gemacht“. Sie ging zu Anmeldetagen in Kitas, vereinbarte dort Gesprächstermine. „Oft fühlte man sich wie in einem Bewerbungsgespräch“, erzählt Lars Gräßer. Allerdings habe er nicht den Eindruck gehabt, dass sie als verheiratetes Paar mit guter Ausbildung und sicherem Einkommen unbedingt Pluspunkte gesammelt hätten. „Manchmal hatte man das Gefühl, die gratulieren uns zu unserem Glück – aber die alleinerziehende Mutter hat bessere Chancen.“

Ein gewisses „Selbstverschulden“ räumen die beiden ein: Gesucht haben sie bevorzugt in Holsterhausen, wo sie wohnen, und im benachbarten Rüttenscheid. „Wir pendeln in zwei unterschiedliche Städte und haben nur ein Auto, da würde es den Tagesablauf zusätzlich verkomplizieren, wenn wir Janneke durch die halbe Stadt fahren müssten.“

So setzen sie ihre Namen auf Wartelisten, auf denen schon 100 andere standen, so nahmen sie hin, dass manche Kita-Leiterin gleich abwinkte: „Ein Kind von einem Jahr – vergessen Sie’s.“ Am Ende einer langen Suche, dachte Swantje Heinemeier schon, sie müsse die Elternzeit verlängern: „Dabei wollte ich gern wieder arbeiten. Im Februar rief dann die WDR-Kita an: Sie hätten einen Platz für Janneke.“

„Ich dachte: Jetzt hab’ ich mein Kind verkauft“

Einen Platz, den die annahmen, obwohl Lars Gräßer gerade in Elternzeit war, obwohl Janneke erst neun Monate alt war: „Als ich den Vertrag unterschrieb, dachte ich: Jetzt hab’ ich mein Kind verkauft“, sagt sie. Tatsächlich gehe die Kleine aber „total gern“ in die Kita; drei Tage die Woche pendelt sie nun mit der Mutter nach Köln. Vorerst: Sollte die Familie in der Domstadt eine Wohnung finden, zieht sie aus Essen weg; obwohl sie sich hier wohl fühlt.

Verstehen kann das Dilemma auch Sozialdezernent Peter Renzel: „Die meisten Familien suchen eine Kita im Stadtteil. Nun ist der Bedarf in Rüttenscheid und Holsterhausen aber sehr hoch. Deswegen halte ich auch nichts davon, mit allgemeinen Versorgungsquoten zu hantieren.“ Der Gesetzgeber nenne eine Quote von 35 Prozent für Kinder unter drei Jahren als Richtwert: „In Essen haben wir Stadtteile mit einem Bedarf von 20 Prozent und solche mit 56 Prozent. Außerdem steht im Gesetz eh keine Quote, sondern ein Rechtsanspruch: Wenn der im August 2013 in Kraft tritt, kann ihn jede Familie geltend machen.“ Dass das nicht bloß Theorie ist, weiß Renzel aus der Erfahrung mit den Kindern ab drei Jahren: „Da haben wir aktuell 105 Rechtsansprüche von Eltern, die wir abarbeiten.“ Bislang habe man noch allen Kindern einen Platz bieten können, „aber nicht immer den Wunschplatz im Viertel“.

Renzel räumt ein, dass die Stadt zum Start des Kita-Jahres nur 40 Prozent der neuen Plätze bereitgestellt hat: „Jeder, der mal ein Haus gebaut hat, kennt die Verzögerungen – wir bauen zig Häuser.“ Und er wisse schon: „Wenn alle Kitas fertig sind, wächst der Bedarf weiter.“