Essen.. Die Essener Verkehrs-AG bildet in ihrer Fahrschule an der Goldschmidtstraße jährlich 20 Straßenbahnfahrer aus. Seit 1967 gibt’s dafür einen Fahrschul-Tram in signalorange. Denn eine Straßenbahn zu steuern, ist nicht so leicht, wie es aussieht – zumal es gar kein Lenkrad gibt.
„Liebe kleine Schaffnerin, sag’, wo fährt dein Wagen hin? Liebe, kleine Schaffnerin, gern bleib’ ich im Wagen drin...“, die Warteschleifenmelodie der Essener Verkehrs-AG erinnert an die gute alte Zeit des Personennahverkehrs in Essen – als noch jede Fahrt mit der Straßenbahn eine Abenteuerreise war. Gut, das ist sie heutzutage ab und an immer noch, wenn mal wieder jemand rüpelhaft auf dem Gleis parkt, die Weiche von jetzt auf gleich streikt oder sogar die ganze Tram ausfällt – und es nicht weiter geht. Was in solchen Problemfällen und im alltäglichen Betrieb zu tun ist, damit Fahrgäste zeitig an ihre nicht ganz so weit entfernten Ziele kommen, lernen angehende Trambahnfahrer in der betriebseigenen Fahrschule der Evag. Denn eine Straßenbahn zu steuern, ist nicht so leicht, wie es aussieht – zumal es gar kein Lenkrad gibt.
Einer, der auch ohne Steuer gut zu recht kommt, ist Sebas- tian Nasse. Seit zwei Monaten ist der 22-Jährige auf den Gleisen zwischen Borbeck und Bredeney unterwegs. Denn er will ein echter Straßenbahner werden. Im Tunnel ist er am liebsten unterwegs. „Wenn wir Signalstörungen üben, kann es vorkommen, dass wir die Straßenbahn von jetzt auf gleich von Tempo 60 auf 20 abbremsen müssen“, sagt Nasse. Und wenn der Funk im Tunnel ausfällt, so wir in einer der vergangenen Fahrstunde, muss er vor dem Signal anhalten, aussteigen und via Drehscheibentelefon in der Leitstelle anrufen und fragen, was zu tun ist.
Gemeinsam mit seinen vier Mit-Fahrschülern geht’s morgens mit Theorieunterricht los und danach für fünf Stunden auf die Strecke. „In der Praxis festigt sich alles“, so der Stoppenberger. Neben Streckenkunde lernen die Schüler, was zu tun ist, wenn es im Fahrzeug brennt. Außerdem steht Deeskalationstraining auf dem Stundenplan. Die Evag bildet pro Jahr maximal 20 Straßenbahnfahrer aus. Die Übernahmequote liegt bei nahezu 100 Prozent.
Die Evag beschäftigt aktuell 830 Fahrer, davon 290 auf der Schiene. Alle anderen fahren Omnibus. In den ersten Fahrstunden üben die Trambahn-Fahrschüler auf der orangefarbenen „Lola“. Sie war bis 1967 als ganz normale Tram unterwegs, bevor sie zum einzigen Evag-Fahrschulwagen umgebaut wurde. Sie wird – anders als ihre modernen Schwestern – per Handkurbel gesteuert.
Für Fahrlehrer Peter Czech gibt’s ein extra Pult mit vielen Knöpfen, die Störungen simulieren können – vom Versagen der Bremsen über blockierte Fahrschalter, Notsignale aus der Kabine bis hin zu Problemen mit den Türen. „Auf der Lola können die Schüler fühlen, wie die Straßenbahn reagiert, denn sie sind ganz nah dran an der Mechanik“, betont Czech. Obwohl bei den modernen Straßenbahnen mehr Technik im Spiel ist, sei die Handhabung identisch, sagt Czech, der seit 1975 ausbildet.
Anders als beim Fahrschulwagen hat er in der 28 Meter langen und 2,30 Meter breiten Tram weniger Möglichkeiten, die Reaktionen seiner Schüler zu testen. „Ich hab’ nur eine Fahrlehrer-Steckdose, an der ich ein kleine Fernbedienung anschließen kann.“ Notbremsungen kann er einleiten, die Stromzufuhr kappen und die Klingel betätigen. Unfälle habe es in seinen Fahrstunden bisher noch nie gegeben. „Und das soll auch so bleiben“, sagt der 59-Jährige.
Drei Monate dauert die Ausbildung insgesamt. Dann steht die Abnahme beim Betriebsleiter an. Anschließend fährt ein „alter Hase“ im normalen Betrieb mit und guckt den Anfängern über die Schulter. Wenn Sebastian Nasse seine Prüfung bestanden hat, will er in Teilzeit Tram fahren, um sich sein Studium der Bildungswissenschaften an der Uni Duisburg-Essen zu finanzieren. Aber bis es so weit ist, muss er 50 Fahrstunden üben. Nasse: „Ich lerne jedes Mal etwas mehr dazu und versuche, aus meinen Fehlern zu lernen.“
Dominik Duwe lernt ebenfalls bei der Evag; Trambahnfahrer zu werden ist sein großer Traum. „Mein Vater arbeitet auch für die Evag, aber als Busfahrer. Doch das wäre für mich nichts“, sagt der 21-Jährige. Wie seine Mitschüler hat er Meldungsformulare, Taschenlampe, Warnweste, Handschuhe und Funkunterlagen in der Tasche, „für den Notfall“.
Seitdem die Fahrschüler mit der Tram fahren, verhalten sie sich privat im Straßenverkehr ganz anders, wenn sie dem Au- to unterwegs sind. „Ich fahre behutsamer und nehme Straßenbahnen ganz anders wahr, weil sie nicht einfach ausweichen können“, sagt die 30-jährige Aysegül Wittenberg, momentan die älteste im Team.
Busfahrer werden von der Evag derzeit nicht ausgebildet, obwohl es in der eigenen Fahrschule möglich wäre. Omnibusfahrer werden jedoch eingestellt, wenn sie bereits einen Führerschein mitbringen. Daher liegt der Fokus in der Fahrschule auf Weiterbildung: Für die Führerscheinverlängerung müssen Fahrer alle fünf Jahre in 35 Stunden in Fahrsicherheit und ökologischer Fahrweise geschult werden.
76,8 Kilometer kreuz und quer durch Essen
Am 23. August 1893 wurden die ersten Strecken der elektrischen Essener Straßenbahnen in Betrieb genommen. Zwei Jahre später wurde die „Süddeutsche Eisenbahngesellschaft“ mit Sitz in Darmstadt gegründet, die 1954 zur „Essener Verkehrs- Aktiengesellschaft“ (Evag) mit Sitz in Essen firmierte.1925 ging die erste Omnibuslinie in Betrieb. 1965 kam die Grugabahn hinzu und 1977 die erste U-Stadtbahnlinie, die U18. Heute umfasst das Streckennetz der Evag (Betriebsanlagen) 76,8 Kilometer, davon 19,6 U-Stadtbahn (Spurweite 1,43 Meter), 52,4 Kilometer Straßenbahn (Spurweite ein Meter) und 4,8 Kilometer Spurbusstrecke. Dazu kommen über 600 U-Bahnhöfe, Straßenbahnhaltestellen und Bushaltestellen, drei Betriebshöfe, vier Stellwerke, fünf Fahrsignalanlagen und die Leitstelle. Mit ihren 135 Straßenbahn- und Stadtbahnfahrzeugen und 192 Omnibussen befördert die Evag jährlich rund 124 Millionen Fahrgäste. Dazu kommen 119 Pkw, Lkw und Spezialfahrzeuge, 24 Anhänger und 29 Schienengebundene Arbeits- und Sonderfahrzeuge. Stand: 31. Dezember 2010. Weitere Infos gibt’s unter: www.evag.de
Fahrer werden für Bus und Straßenbahn
In der Straßenbahn-Fahrschule
Wer Omnibus- oder Straßenbahnfahrer in Essen (Evag), Mülheim (MVG) oder Duisburg (DVG) werden will, kann sich jederzeit initiativ bei der Via Verkehrsgesellschaft bewerben. Vergütet wird nach dem gültigen Tarifvertrag TV-N NW. Der Einsatz erfolgt an einem der drei Standorte. Weitere Infos: www.via-verkehr.de