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Freiburg übernimmt seit Beginn des Monats bei Geringverdienern wieder die Kosten für die Pille & Co. Essen denkt gar nicht daran - weil es finanziell nicht kann. Bis 2004 gab Essen im Jahr 30.000 Euro für Verhütung aus.

Freiburg im Breisgau hat viel zu bieten – kulinarisch, landschaftlich und menschlich. So können sich die Frauen, die zu den Geringverdienern der beschaulichen 224.000-Einwohner-Gemeinde zählen oder die gar auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sind, verschriebene Verhütungsmittel erstatten lassen. Diese „Kann-Leistung“ gilt seit Beginn dieses Monats. Essener Frauen wird hingegen diese Unterstützung weiter versagt. Was ist der Grund für diese ungleichen Lebensverhältnisse?

Die Freiburger haben nicht den verhütenden Sozialstaat erfunden, sie haben ihn wiederentdeckt. Sozialarbeiter hatten zuvor Alarm geschlagen, weil die Zahl der ungewollten Schwangerschaften in ärmeren Familien anstieg. Im Hartz-IV-Regelsatz sind gerade einmal 14 Euro für Gesundheit vorgesehen. Eine Spirale für 350 Euro lässt sich davon nicht bezahlen. Ein „unhaltbarer Zustand“, befand der Gemeinderat und beschloss, die Stadt möge die Kosten für hormonelle Verhütung übernehmen. In Essen ist dieses Thema keines, weil es sich die Stadt nicht leisten kann, heißt es aus der Politik.

„Selbst wenn wir wollten dürften wir nicht“

Bis zum Jahr 2004 galt in allen deutschen Städten die gleiche Regelung: Wer sich keine Verhütung leisten kann, dem wird von Staatswegen geholfen. Essen zum Beispiel zahlte im Jahre 2004 knapp 30.000 Euro für die Pille oder Spirale auf Rezept. Kondome wurden nur auf ärztlich begründete Ausnahmefälle finanziert, da sie als nicht sicher gelten.

Ach, Freiburg, du hast es also besser? Die Antwort ist einsilbig: ja. Zwar versichert der Essener Sozialdezernent, Peter Renzel, der jetzige Zustand sei „rechtlich und sachlich absolut nicht befriedigend“. Essen jedoch, das unter finanzpolitischer Aufsicht steht, könne sich keine freiwilligen Leistungen leisten. „Selbst wenn wir wollten dürften wir nicht.“

Die Übernahme der Kosten von Verhütungsmitteln steht bei Petra Söchting ganz oben auf der Wunschliste an die Politik. Die Leiterin des Lore-Agnes-Hauses, der AWO-Schwangerschaftsberatungsstelle, hat genügend Frauenschicksale gesehen, die eine selbstbestimmtere Wendung hätten nehmen können. Zwar sei die Zahl der Beratungsgespräche bei der AWO im vergangen Jahr um vier Prozent gestiegen, einen direkten Zusammenhang mit dem Wegfall der städtischen Verhütungshilfen sieht Söchting allerdings nicht.

„Kann ich mir meine Sexualität leisten?“

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Die Erfahrung hat Petra Söchting gelehrt, dass „der finanzielle Aspekt selten das einzige Argument ist, ein Kind nicht zu wollen“. Um so wichtiger sei es, Konflikte im Vorfeld zu vermeiden. Wenn fest stehe, dass der Kinderwunsch eines Paares nicht im Vordergrund steht, bleibe die Frage: „Kann ich mir meine Sexualität leisten?“ Viele Städte können es sich nicht leisten, zu helfen. „Essen ist nicht böse, sondern arm“, sagt auch Söchting. Andere könnten sagen: Essen ist nicht kreativ genug.

Sozialdezernent Renzel widerspricht da vehement: „Die Rechtsgrundlage ist eindeutig.“ Und wo Kann-Leistung drauf steht, da sind finanzschwache Kommunen wie Essen raus. Der Ennepe-Ruhr-Kreis, aber auch die Gemeinde Gladbeck lesen das Sozialgesetzbuch aber anders, leiten daraus eine „Soll-Leistung“ für das Gemeinwesen beim Thema Verhütung heraus – und umgehen so das Wir-dürfen-nicht-Dilemma. Weil es Renzel aber auch als einen „Anachronismus“ ansieht, dass nach der aktuellen Gesetzgebung Frauen aus ärmeren Familien nur bis zum 20. Lebensjahr die Pille oder die Spirale von der Krankenkasse erstattet bekommen, will er über die kommunalen Spitzenverbände weiterhin auf „bundeseinheitliche Regelungen drängen“ – und darauf, dass der Bund zahlt.

Renzel zitiert eine Studie des Deutschen Städtetages, nach der von 107 befragten Städten 48 angaben, Frauen, die in sozial schwächeren Verhältnissen leben, die Kosten für die Verhütung zu erstatten. Essen wird auf absehbare Zeit nicht die 49. Stadt auf dieser Liste werden.