Essen..

Ohne Zwischenfälle verlief die ruhrgebietsweite Anti-Atom-Demo in Essen, zu der rund 4000 Menschen gekommen waren. Nach einer Protest-Kundgebung auf dem Willy-Brandt-Platz zog die Menge zur RWE-Konzern-Zentrale, um mächtig „Krach“ zu machen.

Die Presse sucht den Wutbürger. In Stuttgart - bei Demonstrationen zu Minusgraden - war der leicht zu erkennen. Teurer Zwirn, gern mit Krawatte, schon hatte man selbst in der größten Menge jemanden ausgemacht, der sich ansonsten selten - vielleicht gar nie zuvor - meinungsfreudig auf der Straße tummelte. In Essen nun herrscht zur ruhrgebietsweiten Anti-Atom-Demo T-Shirt-Wetter. Also werden Herrschaften mit teuren Marken-Logos angesprochen und antworten erwartungsgemäß: „Es reicht“ und „erste Demo in meinem Leben“.

Familie Sander ist aus Dortmund zum Willy-Brandt-Platz gekommen, um die Politik zur Vernunft zu mahnen. Ein Motiv, das auch Jens und Maria Brakles aus Duisburg umtreibt und die Familie Siekes, die mit drei Kindern angereist ist aus Bochum. Die meisten von ihnen sind gut vorbereitet und - wie sie sagen - mitnichten Demo-Neulinge. Plakate, Transparente, „Atomkraft? Nein Danke“-Sticker, -Fahnen, -Shirts und Poster bringen viele mit. Die AKW-Abschaltung ist seit 40 Jahren Thema, das Protest-Motiv fest etabliert.

Zaungäste vor dem Fahnenmeer

Vor dem Kaufhof steht eine Dame Anfang 50, blauer Rock, adrette Frisur. Warum sie demonstriert? „Tue ich gar nicht.“ Für Atomkraft sei sie ja, sehe keinen Grund für die Forderung nach Abschaltung und würde mithin nicht gern ihren Namen in der Zeitung lesen. Was sie dann am Willy-Brandt-Platz tut? „Ich bin aus dem Kaufhof gekommen und wollte gucken, was hier los ist.“

Zaungäste gibt es zuhauf. Sie strömen aus dem Hauptbahnhof und blicken verdutzt auf das grün-rot-gelbe-Fahnenmeer, sie laufen beim Shopping-Bummel die Kettwiger Straße hinauf und stoppen stutzend ob der Menschenmenge. Vom Bahnsteig 18/19 hat man freien Blick auf die Demonstranten, die sich auf dem Platz sammeln. Und während aus den Bühnenlautsprechern Forderungen nach Abschaltung laut werden, erklärt eine 49-Jährige, sie bekomme schon vom Zuhören eine Gänsehaut. „Die haben ja so recht. Eigentlich müsste man da mitmachen.“ Warum sie es nicht spontan tut? „Keine Zeit, meine Bahn kommt gleich.“

Dabei bietet sich den Teilnehmern gleich zwei Mal die Gelegenheit, zu marschieren. Zum Warmlaufen gibt’s eine kleine Runde, ein Zug über Rahtenaustraße, I. Ha­gen, Kennedyplatz und zurück zum Willy-Brandt-Platz eröffnet die Demo. Anschließend werden die Reden auf der Bühne, die nahe Ansons Herrenhaus aufgebaut ist, feuriger.

Anti-AKW-Lieder und „Ab-schal-ten“-Rufe

Dort geben sich Atomkraft-Gegner, Greenpeace-Aktivisten und Musiker das Mikrofon wie ein Staffelholz in die Hand. Als Kontrastprogramm gibt’s Musik. Ja, es gibt Anti-AKW-Lieder. Da reimen sich Refrain-Zeilen auf Schlüsselworte wie „abschalten“ und „durchgbrannt“. Mitsingen kann zwar keiner der rund 3000 Demonstranten, geklatscht wird dafür umso heftiger. Besonders gelungene Wort-, alternativ auch Liedbeiträge, quittiert die wachsende Menge mit minutenlangen „Ab-schal-ten“-Rufen.

Mikrowechsel, nun hat Greenpeace-Mann Björn Ahaus das Sagen. Der fordert RWE-Chef Jürgen Großmann auf, „die dreiste Klage gegen die Abschaltung zurück zu nehmen“, wofür es Beifall gibt, und spricht davon, dass Atomkraftwerke, „nicht ausreichend gesichert, nicht ausreichend versichert sind.“

Mikrowechsel – Heffa Schüffken von der Nicht-Regierungs-Organisation „Urgewalt“ betritt die Bühne. Nicht jeder kennt sie, weswegen sie anmoderiert wird: Ihre Organisation also verhinderte in zwei Fällen, dass der RWE in Osteuropa Kernkraftwerke bauen durfte. Auch sie richtet eine Grußadresse an Jürgen Großmann, attestiert ihm - in Anlehnung an den Konzernslogan - er würde „an der Spitze der Uneinsichtigen ,voRWEg’ gehen“.

Parallelen zwischen Tepco, Vattenfall und dem RWE werden auf der Bühne gezogen, zitiert wird der EU-Energiekommissar Günter Oettinger, der bekundet habe, es würden in Folge der aktuellen Stresstests weitere Kernkraftwerke in Europa vom Netz gehen müssen. Den Sicherheitsbekundungen der Konzerne wollen die Demonstranten schon lange keinen Glauben mehr schenken.

Bürger sollen „Energieverbrauch senken“

Doch es werden auch kritische Stimmungen an der Veranstaltung laut. Es sei ja gut, die Abschaltung zu fordern. „Aber mir fehlt, dass die Menschen auch einsehen, dass sie ihren Energieverbrauch senken müssen“, sagt die Mülheimerin Eva Rühl-Nemet. Schließlich: „Müssen denn die langen Öffnungszeiten in Geschäften sein? Außerdem müsste man so bauen, dass man das Tageslicht nutzen kann.“

Zusehends wächst die Menge auf dem Platz. „Wir können keine offizielle Zahl nennen“, sagt Polizeisprecher Peter Elke. Stünden die Menschen auf dem Willy-Brandt-Platz dicht gedrängt, könnte man von 5000 ausgehen. Doch ein paar Lücken sind noch auszumachen, rund 4000 also könnten es sein.

Kinder mit bunten Luftballons

Und diese Menge setzt sich gegen halb drei in Marsch Richtung RWE-Turm. Einheizen wolle man den Bossen, wie aus Mikrofonen verkündet wird, Krach schlagen und den weithin sichtbaren Turm umzingeln. Es wird laut, es ist bunt, und es hat ein wenig Volksfestcharakter. Marschiert wird nicht gegen Rechts, Störer der Veranstaltung sind nicht auszumachen, und so laufen auch Kinder mit bunten Ballons durch die Menge.

Da fällt ein besonders schräges Transparent ins Auge. Comic-Anti-Held Homer Simpson vor seinem Arbeitsplatz, einem Atomkraftwerk. Erst vor wenigen Tagen hatten die Macher der Serie verkündet, man wolle neue Folgen auf „political correctness“ testen - also alle AKW-Pannen-Fälle - herausschneiden. Nun tragen Jan-Rasmus Handel und Marijke Gerhards die Simpsons auf Plakaten durch Essen. Zu Demonstrationen gingen sie gern und regelmäßig: „Ich denke, dass es die Pflicht der Bürger in demokratischen Ländern ist, zu demonstrieren, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Auch wenn die Politiker nicht immer unbedingt auf uns hören“, sagt Handel. Das Gemeinschaftsgefühl bei Demonstrationen schätze man, „denn man trifft ja auch immer viele Gleichgesinnte, die das gleiche Ziel haben.“

Wenn sie das Anti-Atom-Comic-Plakat eingepackt haben, wollen sie versuchen, noch den Anschluss an eine Demo gegen Rechts zu bekommen, „das könnte zeitlich knapp werden, aber wir versuchen’s“, sagt der junge Mann.

Auch eine Art von Wutbürger – auf einer eher professionellen denn zufälligen Ebene.