Essen. .
In ihrem Buch „Mutterschuldgefühl“ rechnet die Essener Autorin Ulrike Hartmann ab. Auf rund 200 Seiten gibt sie keine Erziehungstipps, sondern übt vielmehr bissige Kritik an einer Leistungsgesellschaft, in der Kinder nicht mehr Kinder sein dürfen.
Ulrike Hartmann ist das, was man neudeutsch so gern als Powerfrau bezeichnet: Abgeschlossenes Studium, Auslandsaufenthalte in Paris und Kalifornien und eine erfolgreiche Karriere im Verlagswesen - kurzum all das, was die Schröders und von der Leyens dieser Welt gerne sehen. Wer so viel erlebt und gemeistert hat, für den sollte ein Kind doch kein Problem sein, könnte man meinen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit ihrem Sachbuch „Mutterschuldgefühl“ hat die 44-jährige Essenerin nicht etwa einen Betroffenheitsbericht oder gar einen Erziehungsratgeber veröffentlicht. Vielmehr sind es 208 Seiten voll mit Kritik an einer Leistungsgesellschaft, in der Kinder nicht mehr Kinder sein dürfen und Mütter den Begriff „Leistungscoach“ verdient hätten. Wir haben die Autorin zum Interview getroffen.
Was gab den Anstoß, „Mutterschuldgefühl“ zu schreiben?
Ulrike Hartmann: Meine Tochter war damals etwa zwei Jahre alt. Mich hat das Gefühl irritiert, immer alles falsch zu machen. Die Informationsflut, die vom ersten Tag der Schwangerschaft über mich hereinbrach, war massiv. Mir wurde eine Risikoschwangerschaft diagnostiziert, weil ich kurz vor meinem 35. Geburtstag stand. Das Kind war noch nicht auf der Welt, da stand ich schon unter Druck. Mit dem Buch wollte ich Ursachenforschung betreiben, was genau es ist, das mich so sehr beeinflusst. Alarmierend war auch, dass ich kaum eine Frau kannte, die von sich behauptete, eine gute Mutter zu sein.
Sie leben mit ihrem beiden Töchtern (7, 10) und Ihrem Mann in Essen. Die Stadt wirbt für sich als „kinderfreundlich“. Finden Sie das gerechtfertigt?
Ulrike Hartmann: In der Großstadt aufzuwachsen, ist immer etwas anderes. Ich etwa bin in Ibbenbüren groß geworden, als „Wald- und Wiesenkind“. Es gibt hier zu wenige Radwege, außerdem haben viele Kinderspielplätze großen Nachholbedarf. Der Slogan „kinderfreundliche Stadt“ ist in meinen Ohren eine Worthülse. Was soll an Essen besser sein als an jeder anderen beliebigen Großstadt wie etwa Köln?!
Was macht es denn so schwierig, heute eine gute Mutter zu sein?
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Ulrike Hartmann: Den Konsens mit der Gesellschaft zu finden, ist schwierig. Außerdem sind Mütter mit Kindern im Alltag vielen eher lästig. Das wird in der Supermarkt-Szene deutlich, die ich im Buch beschreibe. Das Kind schreit, man ist in der Schlange an der Kasse eingekeilt und erntet böse Blicke. Erst vor Kurzem hat doch Senioren-Union-Vizechef Leonhard Kuckart Kitas in Wohngebieten als „unerträgliche Lärmbelästigung“ dargestellt. Kinder sind in Deutschland nicht überall erwünscht, leider.
In ihrem Buch beschreiben Sie eine Grundschul-Szene. Ihre Tochter ist damals acht, die Lehrerin sorgt sich, sie sei noch „zu kindlich“. Was geht bei einem solchen Satz in Ihnen vor?
Ulrike Hartmann: Ich war schockiert. Schließlich soll meine Tochter noch Kind sein. Die Pisa-Studie hat in Deutschland vieles verändert, ihr gebe ich eine Mitschuld an den heutigen Verhältnissen. Schon die Kitas konkurrieren mit den besten vorschulischen Bildungsangeboten, in der Grundschule geht es in erster Linie um Noten. Mit Freude lernen ist etwas, das immer mehr in Vergessenheit gerät. Immer mehr Kinder leiden unter Symptomen, die auf Burn-Out schließen lassen. Das sollte alarmieren.
Sie haben sich mit dem Buch freigeschrieben. Was geben Sie werdenden Müttern mit auf den Weg?
Ulrike Hartmann: Mütter sollten wieder viel mehr auf sich selbst hören. In allen anderen Lebenslagen lassen wir uns doch auch nicht von allen hereinreden. Das sollte für Kinder umso mehr gelten. Natürlich sind gewisse Kontrollmechanismen wie die verpflichtende Schuluntersuchung zum Wohl aller Kinder wichtig. Unser Land braucht für die Zukunft kreative Köpfe. Wie soll das gehen, wenn schon Kinder keine Zeit mehr haben, sich ganz individuell zu entfalten?