Essen. .

Rund 50 Demonstranten zogen am Freitag mit Anti-Gaddafi-Parolen durch die Essener Innenstadt. Fast alle von ihnen haben vor Wochen den Kontakt zu ihren Familien verloren. Issam Alwarfari versucht von Deutschland aus alles, um seinen Landsleuten zu helfen.

Issam Alwarfali ist noch ganz außer Atem, seine Stimme klingt heiser. Der 23-jährige Libyer hat sich die Kehle aus dem Leib geschrien, für sein Volk und dessen Freiheit. „Gaddafi muss weg!“, skandierte er laut - und mit ihm rund 50 andere in Essen lebende Libyer. Gemeinsam zogen sie vom Willy-Brandt- zum Limbecker Platz, begleitet von vielen neugierigen Blicken. Die Protestbewegung im Norden Afrikas, sie ist auch auf den Straßen Essens angekommen. Männer, Frauen, Kinder - sie alle wissen nicht, wie es ihrer Verwandtschaft geht, ob sie überhaupt noch leben.

Muammar al Gaddafi

Auf den Straßen von Bengasi...
Auf den Straßen von Bengasi...
...feiern die Menschen den Einzug...
...feiern die Menschen den Einzug...
... der libyschen Rebellen nach Tripolis. Viele der feiernden Menschen...
... der libyschen Rebellen nach Tripolis. Viele der feiernden Menschen...
... dürften den gleichen Wunsch haben: Diese Männer bringen ihn mit einem selbst gemalten Plakat deutlich zur Geltung. 42 Jahre...
... dürften den gleichen Wunsch haben: Diese Männer bringen ihn mit einem selbst gemalten Plakat deutlich zur Geltung. 42 Jahre...
... Regierungszeit machten  Muammar al Gaddafi zu Afrikas dienstältestem Herrscher, er selbst nannte sich deshalb den
... Regierungszeit machten Muammar al Gaddafi zu Afrikas dienstältestem Herrscher, er selbst nannte sich deshalb den "König der afrikanischen Könige". Oberst Gaddafi, nach eigenen Worten 1942 in einem Beduinenstamm ... © AP/Sergei Grits
... in der Wüste nahe der Stadt Surt geboren, putschte sich im September 1969 unblutig an die Macht und rief wenige Jahre später den
... in der Wüste nahe der Stadt Surt geboren, putschte sich im September 1969 unblutig an die Macht und rief wenige Jahre später den "Staat der Massen" aus. Der regiert sich ... © AP/Francois Mori
... zumindest in der Theorie selbst und braucht folglich keinen Staatschef, weshalb Gaddafi sich nie so nennen ließ.
... zumindest in der Theorie selbst und braucht folglich keinen Staatschef, weshalb Gaddafi sich nie so nennen ließ. © REUTERS
Zu den harmlosen Sonderlichkeiten des Revolutionsführers gehört das berühmte Beduinenzelt, das er selbst zu Staatsbesuchen ins Ausland mitnimmt, weil er nicht in einem Haus schlafen mag. Eine weitere Schrulle ...
Zu den harmlosen Sonderlichkeiten des Revolutionsführers gehört das berühmte Beduinenzelt, das er selbst zu Staatsbesuchen ins Ausland mitnimmt, weil er nicht in einem Haus schlafen mag. Eine weitere Schrulle ... © REUTERS
... ist die frische Kamelmilch, auf die er morgens nicht verzichten mag, weshalb immer auch ein paar Kamelstuten mit ins Flugzeug müssen, wenn er auf Reisen geht.
... ist die frische Kamelmilch, auf die er morgens nicht verzichten mag, weshalb immer auch ein paar Kamelstuten mit ins Flugzeug müssen, wenn er auf Reisen geht. © REUTERS
Seine Herrschaft konnte Gaddafi aber nur mit eiserner Hand festigen. Politische Gegner wurden gnadenlos unterdrückt. Zugleich achtete er bei der Verteilung ...
Seine Herrschaft konnte Gaddafi aber nur mit eiserner Hand festigen. Politische Gegner wurden gnadenlos unterdrückt. Zugleich achtete er bei der Verteilung ... © REUTERS
... von Macht und Posten darauf, dass die komplizierte Stammesstruktur seines Landes nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Ablehnung und Protest war Gaddafi daher während seiner Herrschaft bisher nur außerhalb seiner Heimat gewohnt.
... von Macht und Posten darauf, dass die komplizierte Stammesstruktur seines Landes nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Ablehnung und Protest war Gaddafi daher während seiner Herrschaft bisher nur außerhalb seiner Heimat gewohnt. © REUTERS
Zum internationalen Paria wurde Gaddafi nach einer Serie von Anschlägen, die seinem Regime zugeschrieben wurden.
Zum internationalen Paria wurde Gaddafi nach einer Serie von Anschlägen, die seinem Regime zugeschrieben wurden. © REUTERS
Anfang der 90er Jahre verhängten die Vereinten Nationen ein Handelsembargo. Jahrelang hielt Gaddafi dem Druck stand, doch im Frühjahr 2003 entschädigte er dann die Opfer der beiden Flugzeuganschläge, ...
Anfang der 90er Jahre verhängten die Vereinten Nationen ein Handelsembargo. Jahrelang hielt Gaddafi dem Druck stand, doch im Frühjahr 2003 entschädigte er dann die Opfer der beiden Flugzeuganschläge, ... © REUTERS
... wenig später schwor er öffentlich seinem Rüstungsprogramm ab. Im darauffolgenden Jahr zahlte die Gaddafi-Stiftung auch Entschädigungen an die Opfer des La-Belle-Anschlags.
... wenig später schwor er öffentlich seinem Rüstungsprogramm ab. Im darauffolgenden Jahr zahlte die Gaddafi-Stiftung auch Entschädigungen an die Opfer des La-Belle-Anschlags. © AFP
Damit vollzog Gaddafi eine radikale Kehrtwende und streckte die Hand nach dem Westen aus. Libyen wurde wieder hoffähig, die UNO hob das Embargo auf. Internationale Konzerne standen ...
Damit vollzog Gaddafi eine radikale Kehrtwende und streckte die Hand nach dem Westen aus. Libyen wurde wieder hoffähig, die UNO hob das Embargo auf. Internationale Konzerne standen ... © REUTERS
... fortan in Tripolis Schlange, um Geschäfte mit dem viertgrößten afrikanischen Ölproduzenten einzufädeln. Die Europäer machten ihn zum Partner, um Flüchtlingsströme aus Afrika einzudämmen.
... fortan in Tripolis Schlange, um Geschäfte mit dem viertgrößten afrikanischen Ölproduzenten einzufädeln. Die Europäer machten ihn zum Partner, um Flüchtlingsströme aus Afrika einzudämmen. © REUTERS
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Der verhasste Herrscher Gaddafi war es auch, der Alwarfalis Familie vor elf Jahren nach Deutschland trieb. Sein Vater war Minister, wurde schließlich politisch verfolgt. „Wir sind sehr dankbar, dass wir in Deutschland so gut aufgenommen wurden“, sagt Issam Alwarfari. Er kam mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern damals in die Bundesrepublik, machte eine Ausbildung zum Hochspannungsmechaniker. In Steele fanden sie zwar ein neues Zuhause, aber keine neue Heimat. Deswegen hofft Alwarfari jeden Tag aufs Neue, dass Gaddafi abdankt und die Demokratie in Libyen Einzug hält.

Hoffnung auf Rückkehr

„Natürlich will ich wieder zurück. Das ist meine Heimat. Elf Jahre lang habe ich sie nicht gesehen“, sagt Alwarfari. Zu der Verwandtschaft, seine Großeltern, Tanten und Onkel leben noch im Land, ist der Kontakt vor vier Wochen abgebrochen. „Festnetz, Handy, Internet - Gaddafi hat alles lahm gelegt. Diese Unsicherheit macht einen verrückt. Ich weiß überhaupt nicht, wie es ihnen geht“, sagt Alwarfari.

Gebannt verfolgt er täglich die spärlich tröpfelnden Informationen im Fernsehen, das Bild einer exekutierten Frau bekommt er nicht mehr aus dem Kopf. „Ich gehe innerlich kaputt“, sagt er, „wenn ich nur daran denke, was da gerade passiert.“ Die Hände in den Schoß legen und seinen Landsleuten die Revolution allein überlassen, das will er nicht. Gemeinsam mit zwei Freunden steht er mit dem Deutschen Roten Kreuz in Verbindung, das am Donnerstag zusagte, medizinisches Personal und entsprechende Ausrüstung zur Betreuung der Konfliktopfer zur Verfügung zu stellen. An den Kosten in Höhe von 200 000 Euro ist auch die Bundesregierung maßgeblich beteiligt.

Alwarfari war es auch, der am Mittwoch die Demo in der Essener Innenstadt anmeldete. Kurzfristig so viele Menschen zu mobilisieren, gibt ihm Hoffnung für die Zukunft. Und auch an die Deutschen appellieren die Libyer auf ihren Plakaten: „Zeigt den Menschen, dass Deutschland nicht nur an Benzinpreise denkt“, ist auf einem der Plakate zu lesen.