Essen-Kettwig. .
Seit 100 Jahren gibt der Reifenhersteller Michelin jährlich seinen Gourmetführer heraus. Das Ange d’Or Junior findet sich auch in der neuesten Ausgabe. Aber ohne die begehrten Sterne.
Die gab Patron Claude Huppertz fast auf den Tag genau vor 20 Jahren zurück. Als erster in Deutschland. Und völlig freiwillig. „Viele hielten mich für übergeschnappt“, erinnert er sich. „Sogar Radio Monaco rief an und erkundigte sich nach meiner geistigen Gesundheit.“
Selbst Michel bedauerte
die Entscheidung
Die gesamte deutsche Gastro-Szene rieb sich verwundert die Augen, denn 1991 gab es hierzulande gerade 14 Restaurants mit zwei Sternen. Auch Michelin selbst bedauerte den Schritt. Huppertz zu keinem Zeitpunkt. „Obwohl, manchmal juckt es schon. Aber dann frage ich mich, ob ich mir das mit 73 noch antun muss.“
Der gelernte Textilkaufmann, Weltenbummler und bekennende Hobbykoch zieht gern Vergleiche zwischen seinem Metier und Fußball. Der erste Stern 1973 bedeutete den Aufstieg in die Zweite Bundesliga, der zweite, 1989 verliehen, führte in die höchste deutsche Spielklasse. „Diesen Standard kann man nicht mit derselben Mannschaft halten. Ich habe einen Sommelier einstellen müssen. Und auch die Infrastruktur muss angepasst werden.“ Riedel-Gläser und Besteck aus dem Hause Christoffel mussten es fortan sein. Einen Riesenbatzen Geld verschlang auch die Renovierung der Toiletten.
Mit dem zweiten Stern hielt eine völlig neue Klientel Einzug. Gastro-Touristen, die alle Häuser dieser Kategorie ansteuern. „Da hörte man Sätze wie ,Letzte Woche hatten wir Fasan bei Witzigmann. Jetzt wollen wir mal sehen, ob Sie mithalten können.’“
Huppertz und seine Brigade konnten. Vor allem, weil der Patron dort alles Wichtige über Essen und Trinken gelernt hatte, wo die Kulinarik zu Hause ist. In Paris streifte er durch die alten, längst durch funktionelle Neubauten ersetzten Hallen, in die er nach Gründung des Ange d’Or regelmäßig zurückkehrte. „Deutschland war kulinarisches Notstandsgebiet. Heute glaubt einem das keiner mehr, aber wir mussten uns sogar die Brunnenkresse in Frankreich besorgen.“
Als sich herumzusprechen begann, dass Huppertz und seine Mannschaft mehr als Würstel und Kraut zu bieten hatten, mehrten sich Limousinen mit ausländischen Kennzeichen auf dem Parkplatz vor dem Haus. Der Gastronom wird wohl etwas gedibbert haben, aber der erste Stern war eine Riesenüberraschung. „Ich kann mich heute noch an die Gänsehaut erinnern, die ich bekam“, erzählt er.
Vom zweiten Stern erfuhr er nur aus Zufall. „Michelin sagt keinen Ton, bevor der neue Führer veröffentlicht ist. Hans-Peter Wodarz aus München hatte es aber irgendwie herausbekommen und rief mich an.“
Sohn Claude junior kehrte nach Lehr- und Wanderjahren in ganz Europa Ende der Achtziger zurück. Sein Vater hatte im Urlaub mit dem ketzerischen Gedanken gespielt, noch einmal neu anzufangen, ohne Sterne. „Wir haben gemeinsam ein Konzept entwickelt und dann Nägel mit Köpfen gemacht.“ Der Name bekam ein „junior“ angehängt, der neue Schriftzug kam bunt und verspielt daher. „Viele Menschen waren irritiert“, erinnert sich Huppertz. „Einige fragten: Ist das jetzt ein Kindergarten mit Bierwerbung?“
Die alte Klientel strich die Segel und ward nie wieder gesehen. „Ich schätzte, dass wir gut 90 Prozent unserer Gäste eingebüßt haben“, so Huppertz. Dabei habe sich eigentlich nicht viel verändert. Die Weinkarte schrumpfte - aber das Niveau der Küche blieb unangetastet.