Schon beim Abitur prophezeite man ihr, dass sie mal eine gute Lehrerin würde, doch damals winkte Else Genrich ab: „Da war ich mit der Schule durch.“ Nun ist sie 65 Jahre alt und bringt Kindern aus aller Welt die deutsche Grammatik bei.
Als Ehrenamtliche beim Projekt „Lernen wie man lernt“ des Kinderschutzbundes erklärt sie auch geduldig unbekannte Wörter und macht Kindern Lust auf Bücher. Dafür hat sie im Familienzentrum „Blauer Elefant“ in der nördlichen Innenstadt eine wunderschöne Bibliothek aufgebaut, weil sie weiß, dass Lesen ein sinnliches Erlebnis ist. Die abgegriffenen Buchspenden der ersten Jahre hat sie allmählich ergänzt durch moderne Jugendliteratur mit farbenfrohen Einbänden. Ansprechend solle das Angebot aussehen. „Für Kinder ist es schwer genug, nach dem Buchrücken zu entscheiden.“
Besonders für Kinder, die weder mit dem Medium Buch noch mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind. Von den 50, 60 Schülern, die hier am Projekt „Lernen wie man lernt“ teilnehmen, haben 96 Prozent ausländische Wurzeln. Ihre Eltern stammen aus dem Libanon, aus Afghanistan, der Türkei, Tunesien oder Sri Lanka. . . Wenn sie als Erstklässler zu ihr kommen, tun sich viele noch schwer mit dem Deutschen; selbst wenn sie im Kindergarten waren.
Gruselgeschichten liest sie im Keller vor
Else Genrich, die von allen Elsmarie gerufen wird, schaut, welchen Förderbedarf jedes Kind hat, bietet zweimal im Jahr Lesetests an. Die Förderung läuft bis zur sechsten Klasse - und länger, wenn ein Kind nachlassen sollte. „In der Pubertät erlahmt der Leseeifer der Kinder, aber wenn sich ihr innerer Sturm legt, kommen sie zu den Büchern zurück.“
Wichtig sei ja, dass sie überhaupt zu den Büchern gefunden hätten, sagt Else Genrich. „Viele Familien haben einen schönen Koran, und das war’s. Die Eltern haben selbst oft nur kurz die Schule besucht und stattdessen auf dem Feld arbeiten müssen.“ Wer Analphabet sei, der könne seinem Kind eben nicht vorlesen. Aber Else Genrich kann das. Sie veranstaltet Lesenächte, kürt Vielleser zum Lesekönig, liest Gruselgeschichten im Keller vor. Anfangs herrsche meist Unruhe: „Wenn dann der magische Moment der Stille kommt, weiß ich: Jetzt hab ich sie.“
„Die Kinder sind mir ans Herz gewachsen“
Zur Wahrheit gehöre auch, dass manchmal keine Stille eintrete, dass manchem Kind das Zuhören erst schwerfalle, dass ihre Bücherei auch mal spärlicher besucht sei, weil anderes interessanter ist. „Für diese Arbeit muss man auf der optimistischen Seite stehen.“
Da steht sie, schon seit zwölf Jahren. Nach dem Abi war sie übrigens erst Ergotherapeutin geworden, hatte lange in der Psychiatrie gearbeitet und sich nach einer Babypause gerade neu orientiert, als ihr Mann beruflich bedingt ins Ausland musste. Drei Jahre Oslo, acht Jahre London. „Und nach meiner Rückkehr wollte mich keiner mehr.“ Was so nicht stimmt: Der Kinderschutzbund wollte sie, erst als Ehrenamtliche, dann acht Jahre in fester Anstellung. „Ich bin mit den Kindern alt geworden, sie sind mir ans Herz gewachsen.“ So ans Herz gewachsen, dass sie nach ihrem Ausstieg vor zwei Jahren gleich wieder ehrenamtlich weitermachte.
Am Ende ihres Berufslebens ist sie also doch eine gute Lehrerin geworden. Wie sagte eine ehemalige Schülerin zu ihr, als sie in den Libanon heiratete: „Frau Genrich, ich muss mich von zwei Familien verabschieden, von meiner und vom Kinder- und Jugendtreff.“