Essen-Werden. .
Werden ist älter als Essen. Auch wenn etwa 50 Jahre in einer über tausendjährigen Geschichte, die beide Städte auf dem Buckel haben, den sprichwörtlichen Braten nicht fett machen: Für die Werdener ist das bis heute wichtig.
Seit der erzwungenen Eingemeindung des rheinisch fühlenden Städtchens ins westfälische Essen 1929 vielleicht mehr denn je.
Westfälisch, rheinisch, wie bitte? Die sind natürlich Feinheiten, die man eher Zugereisten erklären muss. Denn dass Essen dem Rheinland zugerechnet wird, entspringt der politischen Neuordnung der Region nach der Auflösung der alten Reichsherrlichkeit durch Napoleon 1803 und den nachfolgend angerückten Preußen. Traditionell verläuft die Brauchtumsgrenze zwischen Rheinland und Westfalen im heutigen Essener Stadtgebiet etwa entlang der Ruhr.
Ein - pardon - alter Werdener wie Heinrich Engel lässt die Geschichte natürlich locker einfließen. Am besten lauscht man dem langjährigen Propst in seiner ehemaligen Kirche, der wuchtigen Ludgerus-Basilika, die heute wie vor über 1200 Jahren das pittoreske Städtchen am Ruhrbogen beherrscht.
Auch wenn die Katholiken zumindest zahlenmäßig etwas von ihrer einstigen Dominanz in den knapp 10.000 Einwohner-Städtchen eingebüßt haben: An Ludgerus kommt in Werden keiner vorbei. Denn ohne den Heiligen gäbe es die Stadt überhaupt nicht. Auf dem Hügel über der Ruhr gründete der erste Bischof von Münster um 796 eine Benediktinerabtei, die als unabhängiges Fürstentum mit dem Abt als Staatsoberhaupt bis 1803 bestand. Seit Ludgerus’ Tod 809 hüteten die Mönche und heute die Werdener Gemeinde die Grablege ihres Gründers. Nur einmal im Jahr stört man, wenn auch ehrfürchtig und in großer Feierlichkeit, dessen Ruhe. Am ersten Wochenende im September bettet man die sterblichen Überreste in den kostbaren barocken Silberschrein aus dem 18. Jahrhundert und bringt sie zur Verehrung vor den Hauptaltar in der Basilika. Höhepunkt ist die große Schrein-Prozession am Sonntag durch die Straßen der alten Abteistadt.
Seit einigen Jahren beteiligen sich auch die Protestanten an dieser Feier. Vor der evangelischen Kirche an der Heckstraße hält die Prozession zur Statio mit Lesung und Gebet. Die evangelischen Geistlichen, das Presbyterium, Gläubige und Posaunenchor empfangen den heiligen Bischof, der im geistigen Sinne Gründervater und Schutzpatron aller Werdener ist. „Ökumene hat bei uns ein lange Tradition, die wir praktizieren, wo es möglich ist“, so der katholische Priester.
Er könnte noch lange durch die Basilika mit ihrer angrenzenden Schatzkammer führen. Wo heute die Reste des einst viel umfangreicheren Klosterschatzes zu besichtigen sind, stand in preußischer Zeit die Guillotine, weiß Engel. Die Preußen konnten mit dem barocken Abteigebäude nichts anfangen und machten daraus kurzerhand ein Zuchthaus. Den Teil am Ende des heutigen Ostflügels der Folkwang-Hochschule, wo früher Hinrichtungen stattfanden, kaufte die Pfarrgemeinde nach dem Krieg als Trümmergrundstück und richtete dort die Schatzkammer ein.
Engel könnte erzählen von Heiligen und Äbten, vom anonymen Baumeister, der sich mit einer Steinfigur oben im Querschiff des letzten großen romanischen Kirchenbaus im Rheinland selbst verewigte. Könnte erzählen, wie der prächtige Barockaltar in die Kirche kam, vom Orgelneubau in den 1980er Jahren, als man der Bonner Orgelbaufirma Klais den Inhalt der größten Basspfeife in Wein überreichte - immerhin 1000 Liter - und dafür einen ordentlichen Preisnachlass aushandelte.
Eingespielt hat Engel das Instrument übrigens selbst. Immerhin ist der gebürtige Heisinger Zögling des Werdener Gymnasiums (das lange schon einen musischen Schwerpunkt hat). 1961 kehrte er als Religionslehrer zurück. Aber: Ein „alter Werdener“ aus Heisingen? Doch, das geht. Immerhin gehörte Heisingen Jahrhunderte lang zur Abtei Werden. Heute lebt er als Propst a.D. wieder dort, auf der anderen Ruhrseite.
Aber Heinrich Engel folgt immer noch gern seinen alten Wegen durch den Ort. Sicher: „Es wäre schöner ohne die etwa 30.000 Pkw und Lastwagen, die sich täglich durch das Nadelöhr von Brück- und Abteistraße quälen.“ 20 Jahre lebte er im historischen Pfarrhaus an der B 224 mit Blick auf den „Werdener Dom“. Alt ist vor allem die Jahreszahl an der Fassade: 1786. Ohne moderne Doppelverglasung wäre Wohnen dort nicht möglich.
Wenige Schritte weiter, vorbei am Ludgerus-Brunnen, den Bildhauer Ernst Rasche 1977 schuf, und dem alten Rathaus, geht es in die Heckstraße. Dort trifft man auf die ersten malerischen Relikte Alt-Werdens. Das verwinkelte Eckhaus neben der Apotheke beherbergte bis 1803 die alte „Thurn- und Taxis’sche Post“. Heute befindet sich in dem Schieferhaus ein Kiosk.
Die beliebte Altstadt
Die Überbleibsel aus der vorindustriellen Zeit der Ackerbürger und Tuchmacher werden im Stadtkern zahlreicher. Fachwerkhäuser am Eierberg oder in der Grafenstraße. Dort liegt nicht nur das erste evangelische Pastorat von 1637, sondern auch der Werdener „Himmel“. Ein stattlicher Fachwerkbau von 1770. „Dort wohnte der letzte Kanzleidirektor der alten Abtei“, weiß Heinrich Engel.
Die Altstadtgassen sind die Lebensadern des Ortes. Viele inhabergeführte Geschäfte, Restaurants und Cafés ziehen die Werdener Bürger und die Folkwang-Studenten an, die - anders als ihre Essen-Mitte-Kommilitonen - gern in Hochschulnähe wohnen. Ähnlich wie das flussabwärts liegende, früher ebenfalls zur Abtei Werden gehörende Kettwig lockt die Altstadt mit ihren Baudenkmälern Besucher an - und an den Ludgerustagen im März und September kommen auch Pilger. Am Rande der Altstadt, kurz hinter der vornehm zurückliegenden evangelischen Kirche, liegt das wuchtige Haus Heck, ein Teil der ehemaligen Stadtbefestigung, den Engels Amtsvorgänger an die evangelische Gemeinde verkaufte.
Am Ende der Straße, bevor man hinter dem klassizistischen Bürgermeisterhaus die alte Neukircher Mühle und die Ruhrpromenade erreicht, liegt an einem ruhigen Platz St. Lucius. 1063 geweiht, gilt der romanische Bau als älteste Pfarrkirche nördlich der Alpen. Für Heinrich Engel wäre dieser Platz sein Lieblingswohnort. Ruhig, zentral und nahe bei der Brehminsel in der Ruhr. Die dient den Werdenern als Ersatz für den nicht vorhandenen Stadtpark. Auch im schönen Süden kann man eben nicht alles haben.