Essen. .
Essen, Essen, Essen – es besetzt ihre Gedanken, ihren Hunger stillt es nicht. Die Frauenberatung kennt die seelischen Nöte von Essgestörten. Schätzungsweise 30.000 Frauen sind in Essen davon betroffen.
„Ich kann sechs Stunden darüber nachdenken“, sagt die 20-jährige Anna*, die seit fünf Jahren an Bulimie leidet.
„Ich denke darüber nach, ob ich esse, was ich esse, wo und wann ich esse. Ob ich danach zum Sport gehe – oder mich übergebe.“ Anna ist eine von zehn jungen Frauen, die sich wöchentlich in der Frauenberatung Essen mit der Sozialarbeiterin und Gestalttherapeutin Cornelia Simmberg treffen. Sie haben verschiedene Formen von Ess-Störungen, die mit seelischen Nöten, psychischen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergehen - und mit viel Heimlichkeit. Denn auf Verständnis hoffen die Betroffenen oft vergeblich - und Mitleid wollen sie nicht.
„Was gar nicht geht: Mich beim Essen beobachten oder mir traurige Blicke zuwerfen, wenn ich von der Toilette komme“, sagt Anna. Auch für engste Freunde sei es schwer, ihre Erkrankung zu verstehen. Ihr damaliger Freund habe ratlos reagiert, als sie von ihrer Bulimie erzählte. „Er verstand nicht, wo mein Problem liegt.“
Schlanksein als Leistung
Die 24 Jahre alte Marie* hat eine jahrelange Leidensgeschichte und gerade eine sechswöchige Behandlung in einer Klinik hinter sich. „Meine Mutter versprach mir schon, als ich neun war, eine Barbie, wenn ich fünf Kilo abnähme.“ Bis heute kommentiere sie das Gewicht ihrer Tochter. „Sie sieht meine Gewichtsschwankungen, meine Probleme sieht sie nicht.“
Die fordernde Mutter, die dünne Barbie – Maries Erzählung scheint gängige Klischees über die Entstehung von Anorexie und Bulimie zu bestätigen. Doch erstens leiden zwar viele, aber nicht alle Betroffenen unter familiären Konflikten, zweitens wehren sie sich gegen simple Gleichungen à la „Magermodels verursachen Magersucht“. Richtig sei, dass die Allgegenwart der Themen Schönheit, Schlanksein und Diäten Ess-Störungen begünstige und für anfängliche Akzeptanz sorge.
„Die Ursachen für meine Magersucht sind tiefergehend. Aber wenn Du abnimmst, wird das in unserer Gesellschaft als Leistung anerkannt“, glaubt Sarah* (20). Da können Komplimente fatal sein: „Wenn jemand sagt, ich sähe gut aus, frage ich mich: Liegt das nur daran, dass ich so dünn bin?“
Die jungen Frauen seien eben verunsichert, was normal sei, erklärt Simmberg: „Sie leiden unter einem schlechten Selbstwertgefühl und streben gleichzeitig nach Perfektion, zumindest was ihren Körper angeht.“ Wer sie nicht möge, halte sie für zu dick, glaubt Marie. „Das Gewicht ist eine Projektionsfläche für alles“, bestätigt Regina* (24). „Ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten und mit Männern, jetzt schiebe ich das auf mein hohes Gewicht. Fünf Kilo abnehmen ist halt leichter, als grundsätzliche Konflikte zu lösen.“
Eine Barbie als Belohnung fürs Abnehmen
Tatsächlich ist eine Ess-Störung alles andere als leicht: Die meisten der Frauen studieren, arbeiten nebenher, sind ehrgeizig und hilfsbereit. Um ihre zahllosen Verpflichtungen mit ihrem komplizierten Essverhalten in Einklang zu bringen, folgen sie einem strikten Zeitplan. „Man kann sich ja nicht überall übergeben“, sagt Anna. „Man kann nicht mal überall essen“, ergänzt Regina: „Vielen von uns ist das in der Öffentlichkeit unangenehm.“ Bei einer Ess-Attacke sei es sogar undenkbar: „Da muss bergeweise Zeug reingestopft werden! Und vielleicht muss es dann wieder raus.“
Urlaube mit anderen seien kompliziert, Spontan-Besuch unerwünscht, Beziehungen zu Männern problematisch bis illusorisch. Dabei wünschen sich die meisten der Frauen eine Beziehung, später eine Familie. Aber Ess-Störungen machen oft einsam, auch weil viele Betroffene sich schwer tun, sich jemandem anzuvertrauen. „Wenn ich einer Freundin erzähle, dass ich verhungere, sagt die doch bloß: ,Dann iss halt was!“, befürchtet die magersüchtige Sarah. Wenn Kommilitonen oder Kollegen sie unverblümt auf ihr Essverhalten ansprechen oder gar Ratschläge gäben, empfinden die Frauen das als übergriffig.
Die Sucht macht einsam
„Auch Freunde und Verwandte sollten sich nicht als Therapeuten versuchen, sondern schlicht sagen: ,Ich mag Dich, ich bin für Dich da’”, rät Cornelia Simmberg. Wer helfen wolle oder vor Sorge nicht weiter wisse, könne sich an die Frauenberatung wenden.
Denn die Sorgen seien durchaus berechtigt: Neben den Gesundheitsschäden hätten Betroffene mit Zwängen, Depressionen und Borderline-Erkrankungen zu kämpfen. Vielfach verlagere sich ihre Sucht auf Alkohol oder Drogen. Trotzdem warten Essgestörte lange auf einen Termin beim Therapeuten; dabei sind die Heilungschancen höher, je eher die Behandlung beginnt.
Die Gesprächsgruppe erleben die Frauen als echte Hilfe. Schon weil sie merken, dass sie nicht allein sind. Eines Tages wolle sie ihre Ängste ablegen, frei sein, hofft Marie. Anna, die seit zwei Monaten Medikamente gegen ihre Depressionen nimmt, formuliert vorsichtiger: „Es wäre schon schön, freier zu sein.“