Essen. .

Abriss und Neubau: Minister und Oberbürgermeister geben Startschuss für ehrgeiziges Stadtumbauprojekt.

Wenn Mauern fallen, hat dies gerade hierzulande auch Symbolkraft. An der Rüselstraße in Altendorf fällt eine Mauer. Über Jahrzehnte zerschnitt die Trasse der Rheinischen Bahn den Stadtteil wie eine Demarkationslinie. Nun wird der vier Meter hohe Bahndamm geschleift, der Wall fällt und gibt den Blick bereits frei auf Giebel, Häuserzeilen - und lässt der Fantasie Raum für das, was hier in den nächsten Jahren entstehen soll: Wohnen am See in modernen, attraktiven Wohnungen im Grünen, wo heute verbrauchte 50er Jahre Architektur das Bild prägt.

Bauminister Lutz Lienenkämper gab gestern den „formalen Startschuss“, medienwirksam zwei Tage vor der Landtagswahl. Geschenkt. Mit 7,2 Millionen Euro fördert das Land das wohl ehrgeizigste und vielleicht vielversprechendste Wohnungsbauprojekt der öffentlichen Hand in dieser Stadt. 180 nicht mehr zeitgemäße Mietwohnungen wird der Allbau in den kommenden zwei Jahren durch 61 moderne Wohnungen ersetzen. Das Land geht damit auch in Essen neue Wege im Wohnungsbau. 14 Millionen Euro investiert die städtisch beherrschte Wohnungsgesellschaft insgesamt in das Bauprojekt.

Bis auf einige wenige Wohnungen ist die Siedlung zwischen Weuen- und Niederfeldstraße bereits leergezogen, weshalb den Straßenzügen etwas Gespenstisches anhaftet. Im Herbst sollen die Abrissbagger rollen. Im Gegenzug wird der Allbau in Altendorf und Bochold 120 Mietwohnungen für 15 Jahre in die Mietpreisbindung nehmen - angeboten werden sie für 4,39 Euro pro Quadratmeter, 15 Prozent weniger als derzeit üblich. Auch das ist es Teil des Deals mit dem Land. Wer bislang eine kleine Miete zahlte und nun ausziehen muss, soll nicht auf der Straße stehen.

Die Erwartungen auf Seiten der handelnden Personen an das Bauvorhaben sind nicht ohne. „Altendorf hat eine große Zukunft vor sich“, formulierte Oberbürgermeister Reinhard Paß gestern für die Stadt. Für Minister Lienenkämper ist es „das neue Altendorf“. Was Offizielle eben so sagen zu einem Anlass wie diesem.

Hohe Erwartungen

Georg Arens, Essens oberster Wirtschaftsförderer, sprach vor Jahren, bevor die ersten Pläne öffentlich wurden, vom „Notting Hill“ im Essener Westen. Arens, immer für einen prägnanten Spruch gut, spielte damit auf den Wandel des Londoner Stadtteils vom Arbeiter- zum Szeneviertel an – und dürfte damit weit übers Ziel hinausgeschossen sein. Dass sich in naher Zukunft hoch bezahlte Thyssen-Krupp-Manager, deren Schreibtisch nur einen Steinwurf entfernt in der neuen Konzernzentrale steht, ausgerechnet in Altendorf niederlassen – davon geht realistischerweise zumindest niemand aus. Allbau-Vorstand Dirk Miklikowski wäre schon mit weniger zufrieden. Nicht weniger als neun Millionen Euro habe die Wohnungsgesellschaft in den vergangenen Jahren in Altendorf in die Modernisierung ihres Bestandes investiert, ohne dass sich der erhoffte Imagewandel eingestellt hätte. Nicht nur Miklikowski baut darauf, dass Allbau, Stadt und Land an der Rüselstraße diesmal auf die richtige Karte setzen. Zurecht?

Hält der Stadtumbau in Altendorf, was sich Allbau, Stadt und Land davon versprechen? Fünf Meinungen zur Zukunft des Stadtteils:

Der Altendorfer

Willy Göken ist in Altendorf bekannt wie ein bunter Hund. Wer ihn nicht kennt, hat sein Gesicht vielleicht im Fernsehen gesehen. Göken betreibt das Kiosk an der Rüselstraße, den „Treffpunkt für Jung und Alt seit 1963“. Seit feststeht, dass das Büdchen weichen muss, ist Willy Göken ein gefragter Gesprächspartner für Journalisten. Der Spiegel war da, RTL, das ZDF hat sich angemeldet. „Die wollen nur, dass ein paar Leute da sind, die nicht gut finden, dass ich weg muss, wenn sie drehen.“ Der 71-Jährige ist so etwas wie der Verlierer des Neubauprojekts. So fühlt er sich. Im Prinzip sei ja nicht schlecht, dass sich in Altendorf etwas tue. Das viele Geld wäre an der Altendorfer Straße aber besser aufgehoben, findet Göken. Er würde jedenfalls gerne bleiben. Die Stadt will ihm einen neuen Standort für ein Kiosk anbieten, wenn der See fertig ist. Ob er sich darauf einlässt? Es wäre nicht dasselbe. Die Baggerzähne sind seinem Kiosk schon bedrohlich nah gekommen. Ende des Jahres ist Schluss. Sein uriger Streichelzoo mit den Gartenzwergen und Plastiktieren ist schon umgezogen. „Die müssen nur mal neu gestrichen werden.“

Der Planer

Stefan Schwarz beugt sich über den Bebauungsplan-Entwurf. Die Rüselstraße ist darauf eine Promenade, Bäume und Grünflächen umrahmen die neuen Mehrfamilienhäuser des Allbau, vom Jahnplatz zum Seeufer ist es nur ein Katzensprung. „Ein Quantensprung“, sei das, sagt der Mann vom Büro für Stadterneuerung und Bodenmanagement und schwärmt von „einer Initialzündung“, von „neuer Aufenthaltsqualität“. Es ist die in Worte gefasste Erwartungshaltung an ein Projekt, dass in den kommenden Monaten seinen Lauf nimmt. Schwarz kann die nächsten Etappen herunterbeten: Mitte Juni eröffnet der Regionalverband Ruhr den ersten Teilabschnitt des neuen Radwegs auf der Rheinischen Bahn, Anfang 2011 beginnen die Arbeiten am Niederfeldsee, im März feiert der Allbau den ersten Spatenstich...

Zwei Jahre später schon flanieren die Altendorfer am Wasser entlang, zunächst nur an der „Südsee“, der nördliche Teil jenseits des Radwegs soll spätestens 2015 fertig werden. Noch Wunsch, bald Wirklichkeit? „Das ist keine Vision mehr“, sagt Stefan Schwarz. „Wir machen das jetzt.“

Der Makler

In Altendorf verbrennt sich kein Makler mehr die Finger. Einer aus der Branche hat diesen Satz sinngemäß geprägt. Es ist ein paar Jahre her. Der Name spielt keine Rolle. Stefan Pasztor würde diesen Satz heute so nicht mehr unterschreiben. Aber der Vorsitzende des Rings Deutscher Makler (RDM) weiß nur zu gut: Altendorf ist für Vermieter ein schwieriges Pflaster. Die Leerstandsquoten der Wohnungsgesellschaften, sonst ein gut gehütetes Geheimnis liegen im zweistelligen Bereich. Vor allem kleine Wohnungen mit ein oder zwei Zimmern gibt es zuhauf. Wer einen Mietvertrag unterschreibt für ein Jahr oder länger bekommt als Dreingabe schon mal einen Flachbildfernseher. Privateigentümer haben es da schwer. Dennoch: „Über einen Kamm scheren“ mag Pasztor Altendorf nicht. Hier und dort habe sich auch in den vergangenen Jahren etwas getan. Dass sich der Allbau nun im großen Stil engagiert, sei nur zu begrüßen. Aber wird das Neubauprojekt auf das Umfeld „ausstrahlen“ und auch private Hausbesitzer ermutigen, in ihre Immobilie zu investieren? Vielen Hauseigentümern fehle die wirtschaftliche Potenz. „Fünf bis zehn Jahre“ - so lange werde es wohl dauern, bis sich die Verhältnisse in Altendorf ändern, schätzt der Makler. Wer investiert muss keinen Marathon bestehen, für eine Mittelstrecke sollte der Atem reichen.

Die Sozialarbeiterin

Wer im Stadtteilbüro der Diakonie an der Haus-Berge-Straße vorbei schaut, hat in der Regel Probleme, die der Begriff „Stadtteil mit Erneuerungsbedarf“ nur unzureichend beschreibt. Statistisch lebt jeder Vierte in Altendorf von Transferleistungen, von Hartz IV, von der Hand in den Mund. In keinem Stadtteil haben die Menschen weniger im Portemonnaie, nur im Nordviertel sieht es ähnlich düster aus. Städtebauliche Entwürfe, wie sie Planer und Investoren umtreiben, sind da im Zweifel eher Bedrohung als Segen. Und dennoch: Die meisten Leute hier begrüßen, dass sich etwas tut, berichtet Regine Moock, die Leiterin des Diakoniebüros. Ja, der ein oder andere fürchte, dass die Mieten steigen könnten. „Aber das wird hier kein Notting Hill.“

Heute schon habe Altendorf mehr zu bieten, als es der erste Eindruck - geprägt durch verwahrloste Durchgangsstraßen - vermuten lasse. Die meisten Altendorfer sähen in dem Neubauprojekt eine Chance, dass sich dieses Image ändern könnte. Vielleicht ist es die letzte Chance für Altendorf.

Der Unternehmer
Michael Josten hat gut zu tun. Der Vorsitzende des Werberings ist Bestatter von Beruf. Ausgerechnet. Das Totenglöcklichen will mag er für Altendorf dennoch nicht läuten. Ja, der alteingesessene Einzelhandel habe es schwer. Dönerbuden und Billigläden prägen das Bild an der Altendorfer Straße, an der Helenenstraße. Und im Werbering engagieren sich deren Inhaber nicht.

Vom Wohnbauprojekt des Allbau versprechen sich die Einzelhändler viel, sagt Josten. Wie auch vom Thyssen-Krupp-Quartier und vom neuen Radweg entlang der Rheinischen Bahn. Auf dass der ein oder andere, der hier vorbei radelt auch mal nach links und rechts guckt und der Stadtteil „seinen Makel“ endlich loswerde. „Altendorf ist eine Reise wert? Nein, das klingt blöd. Aber Altendorf ist sehenswert“, sagt Josten, dessen Vorfahren einst das Bestattungsunternehmen an der Helenenstraße gründeten - im Jahr 1865. Altendorf stand damals vor seiner Blüte. Vielleicht steht der Stadtteil 2010 vor seinem zweiten Frühling.