Essen. .

Bischof Overbeck ist gut 100 Tage im Amt. Zum höchsten Fest der Christen spricht der Geistliche mit Frank Stenglein über seinen Eindruck von Essen, moralische Maßstäbe, Kirchen-Austritte und die aktuelle Debatte um sexuellen Missbrauch.

Eine Frage, die viele interessiert: Wie spricht man Sie eigentlich an: Exzellenz, Herr Bischof oder Herr Dr. Overbeck?

Bischof Overbeck: Das Richtige ist wohl, mich mit „Herr Bischof“ anzureden. Exzellenz stammt als Titel aus der Feudalzeit und ist im diplomatischen Protokoll, sonst aber eigentlich nicht mehr. Es gibt einige, die es aus früheren Zeiten so gewohnt sind und mich deshalb so anreden.

Sie sind seit gut 100 Tagen im Amt. Welchen Eindruck haben Sie von der Stadt Essen und Ihren Bürgern?

Bischof Overbeck: Die Stadt spiegelt wider, was das ganze Ruhrgebiet prägt: Es leben Menschen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft hier: wohlhabende, aber auch sehr viele arme. Das wird am Stadtbild deutlich. Essen ist auch eine Dienstleistungsstadt, eine Studentenstadt, eine Stadt der großen Konzerne. Ich nehme in der Kommunalverwaltung eine hohe Aufmerksamkeit in Bezug auf die Kirche und auf mich persönlich wahr, viel Freundlichkeit und Achtsamkeit. Das finde ich sehr angenehm.

Ist Essen nicht eine sehr weltliche Stadt, trotz der alten geistlichen Tradition, die in der Münsterkirche ihren baulichen Ausdruck findet?

Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen, ist seit knapp 100 Tagen im Amt. Foto: Matthias Graben
Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen, ist seit knapp 100 Tagen im Amt. Foto: Matthias Graben © WAZ FotoPool

Bischof Overbeck: Die Stadt Essen ist für mich am besten zu beschreiben durch die Situation des Domes. Die Kirche steht zwar mitten in der Stadt, ist aber eher klein, besonders wenn man sie mit den modernen Bauten vergleicht, die weltlichen Charakter haben und die Silhouette der Stadt sehr prägen. Ich habe dem Ministerpräsidenten bei der Kulturhauptstadteröffnung gesagt: Reden Sie nicht nur vom 19. und 20. Jahrhundert. Ich bin als Bischof die lebendige Präsenz der Geschichte in dieser Stadt, die über 1300 Jahre zurückreicht. Dabei gilt, dass weder Kirche noch Stadt ein Museum sein wollen.

Welches Amtsverständnis haben Sie? Wollen sie ein politischer Bischof sein, der sich vor allem bei sozialen Fragen einmischt?

Bischof Overbeck: Ich kann mein bischöfliches Amt gar nicht anderes wahrnehmen, als vom Sozialethischen her zu denken und zu handeln. Das hängt mit der Situation zusammen, in der wir uns im Ruhrgebiet und in Essen befinden. Es geht natürlich um die klassische soziale Frage: Gerechtigkeit. Dann aber auch um Unternehmensethik und das Thema Generationengerechtigkeit, es geht um die Konsequenzen der Globalisierung. Ich will auch politisch sein, ohne dass ich mich in parteipolitischen Streit einmischen möchte. Als es um die rechtspopulistische „Pro NRW“-Demonstrationen an Moscheen ging, habe ich mich zum Beispiel deutlich positioniert. Hier geht es um den gemeinsamen Einsatz für Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und Frieden. Das Schüren von Angst hilft nicht weiter und muss unterbleiben.

Was meinen Sie, wenn Sie von der ethischen Relevanz politischer Entscheidungen sprechen?

Bischof Overbeck: Ich frage mich, was es auf Dauer bedeutet, in einem Rechtsstaat zu leben, der sich in der Präambel des Grundgesetzes ausdrücklich auf einen christlichen Gottesbegriff bezieht, den aber immer mehr Bürger für sich nicht mehr akzeptieren. Welche Folgen das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat, ist noch gar nicht absehbar.

Nennen Sie bitte einmal ein Beispiel, wo die Kirche in Ethisch-Sozialen sagt: Bis hierhin und nicht weiter?

Bischof Overbeck: Wie gehen wir etwa mit den Möglichkeiten der Medizin um, angesichts vieler alter Menschen und immer weniger Jüngerer, die das Gesundheitssystem finanzieren? Wo soll die Behandlung von Kranken ein Ende finden? Jeder muss das medizinisch Notwendige erhalten. Aber die Frage wird uns beschäftigen, wie wir das denjenigen deutlich machen, die als kleiner werdende Gruppe die Kosten zu tragen haben. Der Mensch hat kein Recht festzulegen, wer wann stirbt. Das liegt in Gottes Hand.

Ist die Lage für Arbeitnehmer prekärer geworden?

Bischof Overbeck: Ja, es ist hochproblematisch, dass es für jüngere Leute immer schwerer wird, eine feste Anstellung zu bekommen und es ihnen damit erschwert ist, eine Familie zu gründen und sich gesellschaftlich zu engagieren. Was mich auch umtreibt: Was wird aus Menschen, die sich in der hochtechnisierten Welt einfach nicht zurecht finden? Die Frage ist natürlich auch: wie gehen wir als Kirche mit solchen Menschen um? Die Kirche hat oft Chancen geboten, die andere Unternehmen nicht mehr bereit hielten. Aber auch uns als Kirche sind finanzielle Grenzen gesetzt.

Die Kirche stellt moralische Maßstäbe auf, gerade auch im ökonomischen Leben, hat aber im Einzelfall Mühe, diese dann als Arbeitgeber auch selbst zu erfüllen.

Bischof Overbeck: Genau, auch wir haben hier Spannungen auszuhalten. Aber: Wir müssen uns an unseren eigenen Wertmaßstäben schon messen lassen. Darauf lege ich als Bischof großen Wert. Dass wir uns andererseits dem Wettbewerb und den Realitäten stellen, gehört zur Normalität auf dieser Welt.

Das Bistum hat diverse Sparrunden hinter sich. Die Aufgabe von Gemeinden und Kirchengebäuden hat für Aufsehen gesorgt. War dies in der Rückschau nötig? Ist das Bistum jetzt in ruhigen Gewässern angekommen?

Bischof Overbeck: Mein Vorgänger musste in der beschriebenen Weise handeln, um die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Bistums zu sichern. Das gehört zu den Wirklichkeiten dieser Welt, aus denen keiner herauskommt. Was die Zukunft angeht: Das Ruhrbistum finanziert sich hauptsächlich aus der Kirchensteuer. Wenn Sie sich die wirtschaftliche Entwicklung und die Demografie des Ruhrgebiets ansehen, dann wird deutlich, dass wir vor Zeiten stehen, in denen möglicherweise neue schwere Entscheidungen zu treffen sind. Positive Prognosen sagen, dass in 10 bis 15 Jahren noch rund 800.000 Katholiken im Bistum leben werden - jetzt sind es 870.000. Andere sagen, dass wir nur noch 700.000 Katholiken haben werden. Es gibt Abwanderung, gerade der Gutverdienenden. Andere arbeiten hier, wohnen aber außerhalb der Bistumsgrenzen. Darüber hinaus verzeichnet das Bistum Essen eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit. Außerdem besitzen wir viele Gebäude aus der Nachkriegszeit, die großen Renovierungsbedarf aufweisen. All das hat auf Dauer für unsere Finanzausstattung Konsequenzen.

Es könnte also weitere Spar-Notwendigkeiten geben?

Bischof Overbeck: Wir müssen uns jedenfalls vorbereiten.

Die Zahl der Austritte ist nach wie vor hoch. Wo hat die katholische Kirche Fehler gemacht?

Bischof Overbeck: Im letzten Jahr hatten wir im Bistum knapp 4100 Austritte. Aber es geht ja nicht nur um die wirtschaftliche Seite, sondern vor allem um die inhaltliche. Warum treten Menschen aus? Viele fragen, was kann Kirche für mich tun, was habe ich davon? Kirchesein hat aber wesentlich damit zu tun, etwas für andere zu tun. Ich frage mich immer wieder: was können wir tun, um den positiven Sinn von Kirche herauszustellen? Kirche hat in unserer Kultur sehr viel mit Gemeinschaftserleben zu tun. Wo das in den Gemeinden funktioniert, bleiben die Menschen in der Regel auch dabei. Wir sind klug beraten, solches Gemeinschaftsleben zu unterstützen, weil es die Menschen ja auch vor Vereinzelung schützt.

Kirchen werden dichtgemacht, gleichzeitig prachtvolle Moschen gebaut. Gilt es sich damit abzufinden?

Bischof Overbeck: Kirche, Moschee und Synagoge stehen für die Fähigkeit des Menschen zu beten, und zwar gemeinschaftlich und ritualisiert. Weil Glaube und Vernunft so auseinandergefallen sind, ist das Beten nicht mehr etwas, das unseren Alltag durchzieht. Man muss das nüchtern sehen: Es wird soviele Kirchen geben wie Menschen beten und es wird so viele Moscheen geben wie Menschen beten. Da bin ich Anhänger einer freien Welt. Wer die Religionsfreiheit ernst nimmt, der wird damit leben müssen, dass es verschiedene Religionen gibt

Sind Muslime inbrünstiger?

Bischof Overbeck: Ich kenne auch ganz viele Christen, die inbrünstig glauben. Die Muslime erfahren in der Öffentlichkeit allerdings deutlich mehr Aufmerksamkeit. Und wir dürfen nicht unterschätzen, dass Religion in einer Gesellschaft, in der sie nicht die Ursprungsreligion ist, auch den Kitt bildet, Menschen zusammenzuhalten. Es bleibt abzuwarten, ob sich bei stärkerer Integration in die Gesellschaft ähnliche Phänomene entwickeln wie unter vielen Christen.

Viele Menschen umtreiben durchaus die Sinnsuche und die sogenannten „letzten Fragen“. Eigentlich müsste das der Kirche doch zugute kommen.

Bischof Overbeck: Es stimmt, viele Menschen suchen Antworten nach dem Sinn des Lebens und auch nach dem Sinn von Leid und Tod. Aber oft suchen sie nach kurzfristigen Antworten. Die Botschaft der Kirche aber hat einen langfristigen Horizont. Sie hat gleichzeitig etwas Sperriges. Sie hat einen Inhalt, der Ewigkeitswert in sich trägt. Heutzutage tun sich Menschen mit Institutionen schwer. Unsere Kirche hat in 2000 Jahren Großes geleistet, aber auch viele Sünden auf sich geladen. Damit werden wir konfrontiert.

Das bringt uns zum Thema dieser Tage: dem Missbrauch und der Debatte darüber. Wie konnte es passieren, dass die Kirche dabei so in den Fokus gerät?

Bischof Overbeck: Das Problem des sexuellen Missbrauchs ist leider Gottes groß, und zwar in der gesamten Gesellschaft. Die Zahlen besagen, dass 0,1 Prozent aller Missbräuche durch Geistliche geschehen - das zur Einordnung. Dennoch gilt: Wir haben als Kirche einen hohen moralischen Anspruch. Wer als Priester Sünden begeht - erst recht sehr schwere Sünden - der muss sich verantworten. Die Aufgabe der Medien ist, Aufklärung zu fördern. Und das ist positiv. Wir müssen das Phänomen Sexualität und Macht genauer untersuchen. Das gilt für die gesamte Gesellschaft. Die Freiheit zur Sexualität überfordert viele Menschen und führt manche in Versuchung, Unrechtes zu tun. Und auch der Missbrauch von Macht, den schon Jesus brandmarkte, ist eine der Grundversuchbarkeiten des Menschen.

Was wollen Sie konkret tun?

Bischof Overbeck: Für die Kirche ist es eine Zeit der Reinigung. Gerade wir Bischöfe müssen lernen, mit den Vorgängen transparent umzugehen. Das war nicht immer der Fall. Gott sei Dank hat sich das verändert. Es muss außerdem zum Lernprozess der Kirche gehören, einfühlsam und angemessen mit den Opfern umzugehen, ihnen – soweit das möglich ist – zu helfen, versöhnt zu leben. Wir wissen, wie schwierig das ist, wenn einem Menschen solche Wunden zugefügt wurden.

Was ist mit den straffällig gewordenen Geistlichen?

Bischof Overbeck: Zunächst ist dafür zu sorgen, sie konsequent zu suspendieren, sie nicht mehr in der Seelsorge von Kindern und Jugendlichen einzusetzen. Aber sie bleiben erstens Menschen, zweitens Christen und drittens Priester. Fertige Lösungen haben wir nicht. Zunächst aber stehen wir in der Verantwortung, uns um die Opfer zu kümmern.

Ist der Zölibat Schuld an den Übergriffen?

Bischof Overbeck: Wissenschaftler außerhalb unserer Kirche sagen, dass es da keinen Zusammenhang gibt, sondern dass wir es mit pädophilen Neigungen von Männern zu tun haben, unabhängig davon, ob sie zölibatär leben oder nicht.

War die Kirche zu leichtfertig bei der Auswahl ihrer Priester?

Bischof Overbeck: Wir haben uns immer große Mühe gegeben, die richtigen Kandidaten auszuwählen. Es gab aber Kandidaten, bei denen man Pädophilie nicht erkannt hat. Oder der Kandidat wusste zunächst selbst nichts von dieser Neigung. Wir stellen fest, dass Gemeinden pädophil auffällige Priester oft nicht wahrgenommen haben, weil diese den abgespalteten Teil ihrer Identität woanders auslebten. Manches können sie von außen entdecken, anderes nicht.

Hat die Kirche früher zu wenig auf die Opfer geschaut?

Bischof Overbeck: Früher ja - eindeutig. Man den Kindern nicht geglaubt, wenn sie von einem Missbrauch erzählten. Vielmehr hat man oft gesagt: Das tut ein Geistlicher nicht. Da ist man heute wesentlich sensibler, Gott sei Dank.

Wie viele Fälle von Missbrauch sind im Bistum anhängig, wie viele prüfen sie?

Bischof Overbeck: Wir haben zur Zeit rund 30 Hinweise auf sexuellen Missbrauch. In sechs Fällen geht es um Priester, die noch leben. Unter diesen sind zwei, die ohnehin schon einschlägig verurteilt wurden, darunter der 62-jährige, den damals das Ruhrbistum in die Obhut des Erzbistums München gegeben hat, damit er sich dort einer Therapie unterzieht

Ein Amtsbruder von Ihnen gab der sexuellen Revolution der 68er-Generation eine Mitschuld an all dem.

Bischof Overbeck: Missbrauch ist ein Phänomen, das zu allen Zeiten vorgekommen ist. Ich vertrete diese These nicht.

Themenwechsel: Ostern steht vor der Tür. Warum ist dieses Fest für die Kirche so enorm wichtig?

Bischof Overbeck: Ostern führt zur inneren Mitte unseres Glaubens. Durch Gottes Kraft überschreitet Jesus die Grenze des Todes. Das ist der Grund unserer Hoffnung auf unsere eigene Auferstehung.

Deshalb ist Ostern auch wichtiger als Weihnachten?

Bischof Overbeck: In beiden Festen feiern die Christen die Erlösung der Menschen durch Gott. Aber die Botschaft von Ostern ist für viele Menschen angesichts der Endlichkeit des irdischen Lebens von besonderer Bedeutung.