Essen. .

Eine Couch-Potato ist sie nicht, eher eine Sofa-Liebhaberin mit einem Faible für fremde Polster. Astrid Wichmann betreibt „Couch-Surfing“: Lädt fremde Gäste ein und macht Urlaub in den Wohnzimmern dieser Welt.

Ganze Urlaube kann sie so verbringen, fernab von Balkonien: Tel Aviv, Toronto, Oslo – irgendwo steht immer ein ausziehbares Möbelstück, bretthart oder kuschelig weich, andere Länder andere Sofas, sie ist da flexibel. Denn „Couchsurfing“, das ist für Astrid Wichmann (33) mehr als Billigurlaub mit Familienanschluss. Das ist fast schon eine Philosophie, eine Reisehaltung fern ab von Touri-Nepp und Bettenburgen.

Urlaub auf der Couch: Ein paar hundert Essener haben inzwichen den Sofa-Trip für sich entdeckt, sind Gastgeber und Polstertrotter zugleich, haben sich auf der Website registriert. Dort lässt sich bequem die nächste Reise planen, hüpfend von Couch zu Couch, und kostengünstig ist es auch: ein Sofa für einen Blumentopf — oder ein Dankeschön. Die Nutzer präsentieren sich mit Profil, Foto und Gästebuch, genügend Platz für Lobhudelei und Gemecker. Böse Überraschungen sind da selten, ist Astrid Wichmann überzeugt.

Noch lässt der Kulturhauptstadtboom auf sich warten

Zwischen nostalgischen Kassettenregalen und altem Trimm-Dich-Rad steht das Prachtstück, die graue Wohnzimmercouch – zu Hoch-Zeiten gern mal ausgebucht. Im Notfall muss Papas altes Schrankbett herhalten, sperriger Schlummerplatz zum Ausklappen, und dann gibt es da noch ein zweites Sofa: „Hier haben auch schon mal drei Leute übernachtet.“ Mitbewohner und Couchsurfer Thorsten Hartung schüttelt den Kopf: „Ich hatte in einem halben Jahr gerade mal einen Gast.“ „Du hast ja auch bis vor kurzem in Gelsenkirchen gewohnt“, kontert Astrid Wichmann – Treffer!

Noch lässt der Kulturhauptstadtboom auf sich warten, Messebesucher seien es meist, die den Schlafplatz in Rüttenscheid nutzen, Leute auf der Durchreise. „Es macht nun mal niemand in Essen Urlaub“, schmunzelt Astrid Wichmann, die auf Wunsch auch gern den Reiseführer gibt: „Wenn’s sein muss, darf es ruhig ein wenig Sightseeing sein, Zollverein und Co eben. Aber eigentlich ist es viel spannender, die Gäste in den eigenen Alltag zu integrieren, sie mit in die Lieblilngskneipe zu nehmen, ihnen meine Stadt zu zeigen.“ Nicht immer reiche die Zeit, Wichmann arbeitet an der Uni an der Entwicklung von Lern-Software, aber ein wenig Quatschen, sich austauschen — soviel Gastfreundschaft muss sein.

„Wir verbringen unsere Freizeit lieber mit Fremden als mit Freunden“

Und dann gebe es da noch die „Freaks“, Menschen, die man nie kennengelernt hätte, wäre da nicht die Wohnzimmercouch, Menschen wie Joseph – einen passionierten Bahnfahrer. „Der schielte über beide Ohren, kam nur mit einem kleinen Rucksack, hatte kaum Gepäck dabei – aber dafür zwei Wecker“, erinnert sich Astrid Wichmann. „Ein Brite mit der verrückten Idee, alle Bahnstrecken der Welt abzuklappern.“ In aller Frühe sei der schon völlig übernächtigt in den Zug gestiegen, habe sich erst spät abends wieder blicken lassen – fünf bis zehn Prozent aller deutschen Bahnstrecken hat er geschafft, immerhin.

Gerade erst ist Astrid Wichmann aus Tel Aviv zurückgekehrt, Geschäftsreise mit anschließender Sofavisite. Eine harte Erfahrung, im wörtlichen Sinne: „Aber Tel Aviv ist teuer, da muss man Abstriche machen.“ Interessant war es dennoch: Tanzen in der rauchfreien Turnhalle mit Wasser, Hippies und Weltmusik – „solche Orte finden Touristen nie. Diese Innenansicht einer Stadt reizt mich besonders.“

In der Fremde auf fremden Polstern, fremde Menschen im eigenen Heim, misstrauisch darf man da nicht sein, wohl eher ein Menschenfreund. Astrid Wichmann überlegt: „Ich glaube, wir Couchsurfer sind Menschen, die sich gern aus ihrem Alltag rausreißen lassen. Wir verbringen unsere Freizeit eben lieber mit Fremden als mit Freunden.“

Hier geht’s zur Couchsurfing-Homepage.