Essen.
Schulbabschlüsse werden bei der Volkshochschule immer begehrter. 300 Essener nehmen in jedem Semester an den Kursen teil. Für viele ist es die zweite Chance im Leben.
Nicht wenige denken so wie Anja, eine Mutter von zwei Söhnen im Alter von elf und 16 Jahren: „Nachdem ich elf Jahre verheiratet und nur für meine Familie da war, habe ich gemerkt, dass es auch noch etwas anderes im Leben geben muss.“ So entschied sie sich, mit 38 Jahren bei der Volkshochschule einen Realschulabschluss zu machen. Es hat funktioniert.
Seit fünf Jahren ist Heike Hurlin Leiterin des Fachbereichs Schulische Weiterbildung bei der VHS. In jedem Semester sorgt sie mit ihrem Team dafür, dass 300 junge Erwachsene aus aller Herren Länder ihre zweite Chance im Leben, einen Schulabschluss, nutzen wollen - mit viel Erfolg, denn es gibt immer weniger Abbrecher. Die aktuelle Altersspanne liegt zwischen 17 und 58 Jahren. Angeboten werden alle Schulabschlüsse der Sekundarstufe I, nämlich die Hauptschulabschlüsse 9 und 10 sowie der mittlere Berufsabschluss (Realschule). Heike Hurlin: „Alle streben den Realschulabschluss an. Der Essener Arbeitsmarkt benötigt eine immense Zahl von Arbeitskräften gerade in der Altenpflege und bei der Kinderbetreuung, bald kommt das produzierende Gewerbe hinzu, denn für Essen ist ja schon für 2015 der demografische Knick angesagt.“
Modellprojekt für Hartz IV-Empfänger
Finanziert werden die zweieinhalbjährigen Kurse durch EU-Mittel. Im EU-Bereich leben 80 Millionen Menschen ohne Schulabschluss, deshalb soll eine Bildungsoffensive dafür sorgen, besonders jene zu fördern, die von Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Heike Hurlin über ihre Erfahrungen: „Unsere Teilnehmer sind sehr dankbar und lernbegierig. Es kommen immer mehr Frauen mit Migrationshintergrund. Sie sind mit 13 oder 14 Jahren eingewandert, da dolmetschen die Kinder jetzt ihre Mütter. Aber diese Frauen fragen sich: ,Was soll ich in dieser Gesellschaft, wo ist hier meine Rolle?’“ Bei ihrer Integration in die Stadtgesellschaft habe die VHS die Rolle eines „wichtigen Players“, aber, so die VHS-Fachbereichsleiterin, „wir müssen auch die Chance nutzen, diese Menschen besser zu verstehen“. Erstaunlich sei, dass sich die VHS-Schulabschlussangebote wie ein Lauffeuer verbreiteten, etwa in Katernberg: „Man sieht den Erfolg, vieles geht über Mund-zu-Mund-Propaganda.“
Mit ihrem Vorzeigeprojekt „Hauptschulabschluss mit Berufseinstieg“ für Hartz IV-Empfänger hat die Essener VHS gemeinsam mit dem Berufsförderungszentrum (Bfz) schon ein Stück Weiterbildungsgeschichte geschrieben, das Modell wird jetzt von Gelsenkirchen übernommen. Seit 2009 gibt es einen Rechtsanspruch auf den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses. Die Förderung erfolgt über einen Bildungsgutschein der Agentur für Arbeit und des Job-Centers. Dabei werden in der VHS den Teilnehmern zunächst in fünf Monaten die schulischen Grundlagen vermittelt. Nach der Hauptschul-Abschlussprüfung bereitet eine sechsmonatige berufliche Grundlagenvermittlung im Bfz auf einen Einsatz in einem Unternehmen vor. Möglich ist das bislang in den Berufsfeldern Lagerwesen, Logistik, kaufmännische Berufe, Mechatronik, Metallfertigung und Gartenbau. Beim Premierenkurs haben 14 Essener diese Hürde genommen, der zweite Kurs ist fast ausgebucht, ein Parallelkurs geplant. Heike Hurlin: „Auch das ist ein wichtiges Angebot. Es geht um Menschen um die 30, die seit Jahren am Rande leben und wieder reinmüssen ins Leben.“