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Nach den schockierenden Berichten über Prügel und Strafen treffen sich die Ex-Bewohner des Franz-Sales-Haus in einem betreuten Gesprächskreis. Es gilt mittlerweile als Tatsache, dass dort bis vor 30 Jahren bei der Erziehung Willkür herrschte.

Ortstermin im Franz Sales Haus, der Behinderteneinrichtung an der Steeler Straße in Huttrop. Ein freundlich gestalteter Gruppenraum, weiße Wände, Möbel aus hellem Holz. Ein gutes Dutzend Menschen sitzt an einem großen Tisch. Platten mit belegten Broten liegen bereit. Die Sommersonne scheint durch die Fenster und malt fröhliche Lichtflecken an die Tapete.

Dann sagt eine Frau: „Hier gab’s immer nur Prügel und Maloche!“ Verständiges Nicken im Kreis. „Und in den Akten wurd’ man auch noch für schwachsinnig erklärt!“

Seit Ende März treffen sie sich ehemalige Bewohner und sprechen über die Vergangenheit des Franz Sales Hauses. Es geht mehrheitlich um die Fünfziger, Sechziger und Siebziger Jahre. Die früheren Bewohner sprechen von Schlägen und blutigen Lippen. Von Angst in der Nacht und vollgemachten Betten. Und von dicklicher Milchsuppe, die es zu essen gab.

Es gilt mittlerweile als unangezweifelte Tatsache, dass bis vor gut 30 Jahren bei der Erziehung im Franz Sales Haus Willkür herrschte. Es gab drakonische Maßnahmen, die man als sadistisch bezeichnen muss. Heute gilt das Franz Sales Haus in ganz Deutschland als eine der renommiertesten Einrichtungen für Behinderte, es ist ein richtiges Unternehmen mit eigener Werkstatt und Berufskolleg: 800 Angestellte, 20 Standorte.

„Draußen hat uns sowieso niemand geglaubt“

Im Februar wurden die schockierenden Berichte ehemaliger Bewohner bekannt. Im Zuge der Welle von Veröffentlichungen über Missstände in kirchlichen Einrichtungen meldeten sich auch Männer und Frauen, die früher im Franz Sales Hauses gelebt hatten. Auch von sexuellen Übergriffen war die Rede. Schwester Heriburgis, Oberin der Elisabeth-Schwestern, des Ordens, der damals die Nonnen im Franz Sales Haus stellte, entschuldigte sich öffentlich für die Praktiken, „die heute undenkbar erscheinen“.

Günter Oelscher, Leiter des Hauses seit 2002, rief im Februar ehemalige Bewohner öffentlich dazu auf, sich zu melden – so entstand der Gesprächskreis, der sich so lange trifft, „wie es angebracht ist“, so Oelscher. Der Kriminologe und Therapeut Michael Stiels-Glenn sowie Reinhold Huppertz vom Sales-Haus begleiten den Gesprächskreis. Zusätzlich hat das Haus externe Historiker beauftragt, die Geschichte des Hauses aufzuarbeiten (siehe Text unten).

Stiels-Glenn erklärt: „Bei den meisten Bewohnern dieser Jahrgänge ist einfach die Standard-Diagnose ,mittelgradiger Schwachsinn’ gestellt worden.“ Im Heim wurden sie dann mit Tabletten und Spritzen ruhig gestellt. Die Ämter hatten sie aus den Familien geholt, oft begann eine Odyssee durch viele Häuser.

Doch auch früher habe es immer wieder vereinzelt Nonnen gegeben, die anders gewesen seien, menschlich, liebevoll. Das betonen fast alle – und sie wollen auch klargestellt haben, dass das Franz Sales Haus heute anders ist, seinen guten Ruf zurecht besitze.

„Reden hilft“, sind sich alle Ex-Bewohner am Tisch einig. Viele von ihnen haben Jahre und Jahrzehnte geschwiegen. Viele von ihnen machen jetzt zum ersten Mal die Erfahrung, ernst genommen zu werden. „Draußen“, sagt ein Mann, „hat uns sowieso niemand geglaubt.“

Historiker leuchten die dunklen Kapitel aus

Das Franz Sales Haus lässt die Kirchen-Historiker Prof. Wilhelm Damberg und Dr. Bernhard Frings (Ruhr-Uni Bochum) die Geschichte des Hauses aufarbeiten. „Wir helfen auf allen Ebenen“, betont Günther Oelscher, Leiter des Franz Sales Hauses.

Vor Wochen haben die Wissenschaftler damit begonnen, die Akten des Hauses zu sichten und frühere Mitarbeiter und Bewohner zu interviewen. Ende des Jahres soll es einen ersten Zwischenbericht geben.

„Wir versuchen, die Betreuungsstrukturen zu analysieren“, erklärt Damberg. „Es ist ein Feld, das in der Forschung bislang kaum behandelt wird.“ Zu klären sind Fragen wie: Welche Ausstattung gab es eigentlich in den Heimen? Wie sah der Alltag aus? Und was ließen die Aufsichtsbehörden zu? Den Wissenschaftlern kommt der Umstand zugute, dass sämtliche Akten des Franz Sales Hauses noch verfügbar und bereits in geordnetem Zustand sind – dank der Arbeit des Haus-Archivaren Martin Annen.

„Die Welt der Kinderheime in den Fünfziger und Sechziger Jahren ist eine Welt, die nicht mehr in unserem Bewusstsein ist“, sagt Damberg. „Die Kirchen konnten über Jahrzehnte nur funktionieren, weil es Frauen gab, die dazu bereit waren, als Kinderpflegerinnen umsonst zu arbeiten“, betont Damberg. Er will keine pädagogischen Verfehlungen der Vergangenheit rechtfertigen, aber: „Auch die Frauen ließen sich demütigen – als Möglichkeit, in den Himmel zu kommen.“ Abgeschlossen werden soll das Sales-Forschungsprojekt in der Mitte des nächsten Jahres.