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Einen ganzen Tag lang platzt die A40 aus allen Nähten. Zwei Millionen Menschen haben das Still-Leben zum Spektakel gemacht. Unsere Autoren haben sich treiben lassen. Eindrücke aus dem Tunnel, aus Kray und aus Borbeck.

Im Halbdunkel des Tunnels zucken Blitze

Surreal? „Wenn ich mit dem Auto hier durchfahre, mache ich immer das Fenster zu – jetzt laufe ich hier durch“, sinniert ein Mann vor dem Eingang in den Tunnel. Man könnte vermuten, unter der Erde sei die stillste Stelle beim lauten Still-Leben zu finden. Weit gefehlt: das lärmende Rauschen der Abluft-Ventilatoren, ein Klangbrei aus tausenden Kehlen, der durch die Röhre wabert. Kinder kreischen – Höhlenfeeling. Ab und an zieht eine Gruppe mit Bollerwagen und Hifi-Anlage durch – irgendwo zwischen Vatertag und Karneval. Und es zucken die Blitze im Halbdunkel. Es müssen Millionen Fotos enstehen an diesem Tag allein hier im Tunnel. Ein Pärchen vor dem SOS-Schild, ein Mann vor der Tafel „Kilometer 58,9. Essen Zentrum-Ost“. Profis sind mit Stativ unterwegs. „Die interessanteste Kultur kommt immer noch von der Straße prangt über dem Tunneleingang auf der „Dortmunder Seite“. Auf dem Asphalt im Tunnel stimmen die Menschen über dieses Kulturfest mit den Füßen ab – während in der zweiten Röhre die Radfahrer und Skater flitzen. Da, wo es fußläufig ist, reifen dafür Erkenntnisse ganz besonderer Art: „Schneller als sonst geht es auch nicht.“ Stefan Kober

Einfach eine gelungene Party feiern

Außergewöhnliche Ereignisse sorgen dafür, dass die Autobahn mehr lockt als der Biergarten: Pünktlich zur Sperrung der A 40 um 22 Uhr am Vorabend des Still-Lebens hatten sich rund 300 Schaulustige mit Kindern, Hunden und der einen oder anderen Dose Bier auf der Wickenburgbrücke eingefunden, um den Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks bei der (Absperr-)Arbeit zuzusehen. Und danach passierte - erst einmal nichts. Die Zahl der Zuschauer, die gern den Aufbau der Tische und Bänke beobachten wollten, nahm deshalb halbstündlich ab. Die Lkw mit dem Equipment standen zwar bereit, doch auch zweieinhalb Stunden nach der Absperrung gab es noch keine Anzeichen, dass sich in absehbarer Zeit Spannendes auf dem Asphalt tun würde, so dass viele der Zuschauer etwas enttäuscht den Heimweg antraten, denn nur für Blaulicht-Kontrollfahrten der Polizei wollte man seine Kräfte dann doch nicht verschwenden.

Die brauchte man schließlich am Veranstaltungstag. Wer erwartet hatte, dass sich die Feierwilligen in dicken Trauben an den Auffahrten sammeln und dann auf ein Signal hin um Punkt 11 Uhr losstürmen würden, sah sich getäuscht. Schon vor dem eigentlichen Festbeginn nutzen Radfahrer und Fußgänger die Piste, die sonst den Autos vorbehalten ist, und sahen den Aktiven beim Decken der Tische und Vorbereiten der Aktionen zu.

Apropos Aktionen: Erstaunlich viele Tische und Bänke blieben leer und dienten müden Fußgängern zur Erholung, und die richtig spektakulären Kulturaktionen blieben Mangelware. Nur an wenigen Tischen, wie beim kostenlosen Blumenstecken, bildeten sich zeitweise Schlangen. Originell: Man konnte seinen Kussmund auf Leinwand verewigen. Für die Menschen im Ruhrgebiet und ihre Gäste muss es vielleicht im Rahmen eines solchen Festes keine Kultur auf höchstem Niveau sein. Einfach feiern, gemeinsam essen, reden, vielleicht ein bisschen singen und tanzen - das reicht doch völlig, um eine gelungene Party zu feiern. Und gelungen war es allemal, das Stillleben auf der A 40. Elisabeth Schulz

Längste Hochzeitstafel der Welt

Wo in der Regel angesichts des Staus eher Flüche über die Straße hallen, wurden am Sonntag Liebesschwüre ausgetauscht. Frisch gebackene Braut- und langjährige Jubelpaare nahmen an der Auffahrt in Kray an der längsten Hochzeitstafel der Welt Platz. Auf Initiative der beiden Werdener Frank Hahn und Harald Gedenk ließen die Paare den schönsten Tag des Lebens noch einmal Revue passieren. Flankiert von einem Drehorgelspieler und Blumenkindern wurde ihnen auf dem Ruhrschnellweg ein gebührender Empfang geboten. „Die Idee ist einfach schön. Außerdem können wir so unseren Beitrag zur Kulturhauptstadt leisten“, sagte Kristina Rösler-Reinke, die ihrem Mann Christian erst am Vortag das Ja-Wort im Kölner Dom gegeben hatte. Das Hochzeitsmenü für die Gäste war dabei ruhrgebietstypisch zünftig: mit Prosecco aus Dosen, Frikadellen und Butterschmalz-Stullen. Schlussendlich bekundeten die Teilnehmer auch ihre Liebe zum Revier – als alle gemeinsam mit einer Blaskapelle das Steiger-Lied anstimmten. Jennifer Schumacher

Umzingelt von Drahteseln

Sonntags um zehn auf dem Weg zum Bäcker bin ich normalerweise der einzige Radler weit und breit. Als ich mich an diesem Sonntag aufmachte, war ich plötzlich umzingelt von Drahteseln. Aus jeder Straße kamen sie heraus, an jeder Ecke rotteten sich kleine Grüppchen zusammen. Mir war, als würde die Tour de France für einen Tag in Bedingrade Station machen. Mir schwante Böses, und meine schlimmsten Befürchtungen wurden Minuten später Gewissheit: In der Auslage der Bäckerei herrschte gähnende Leere, lediglich meine beiden bestellten Croissants hatte die Verkäuferin vor dem Ansturm der Massen in Sicherheit bringen können. „Seit viertel vor acht haben die Leute hier Tüten voll mit Brötchen rausgeschleppt“, wusste die Dame zu berichten.

Angesichts der Ebbe im Brotschrank wurde das traditionelle Sonntagsfrühstück auf die französische Variante reduziert. Was jedoch angesichts des avisierten Picknicks auf der Autobahn selbst für die Kinder kein Problem darstellte. Genauso wenige Gedanken machten wir uns über die Anreise, liegt doch die Anschlussstelle Essen-Borbeck kaum zwei Kilometer entfernt von unserem Haus. Mit den Fahrrädern ein Klacks, so dachten wir. Doch das dachten offenbar alle Borbecker. Und so staute sich der Verkehr auf dem Radweg der Aktienstraße fast genauso wie im Berufsverkehr auf der A 40. Spätestens an der Stadtgrenze ging gar nichts mehr, absteigen und schieben war auf den letzten Metern angesagt, wo unzählige angekettete Drahtesel den Straßenrand säumten.

Genauso zählflüssig ging’s zu Fuß auf die Autobahn. Am Edeka-Versorgungstruck hatten sich bereits lange Schlangen gebildet, an den Tischen zahlreicher Vereine, die im Bereich der Anschlussstelle ihre Stände aufgebaut hatten, tobte der Bär. Wir orientierten uns 500 Meter weiter östlich in Richtung der gelben Ballons, denn dort hatte Ruhr.2010 150 Tische für die zahlreichen Schachtzeichen-Helfer reserviert. Ein netter Zug, doch leider kaum Resonanz. Während sich rechts und links die Leute knubbelten, blieb hier der Großteil der Tische leer. Wir machten das Beste daraus, hockten uns hin und prosteten den vielen flanierenden Bekannten zu.

Als wir uns gegen 16 Uhr in Richtung Ausfahrt orientierten, hatte sich nichts geändert. Die Musikfreunde Lantershofen von der Ahr intonierten nach wie vor volkstümliches Lieder, die Vereinsmeier sangen zum x-ten Mal das Steigerlied, und die Schlange am Edeka-Truck war immer noch ordentlich. Lediglich der Radweg war nun wieder befahrbar. Michael Köster