Essen.

Das Christliche Jugenddorf Zehnthof (CJD) hat eine neue Clearing-Gruppe eröffnet, in der junge Mütter begleitet den Alltag mit dem Kind erlernen. Nach drei Monaten geben die Betreuer der Einrichtung eine fachliche Empfehlung an das Jugendamt ab - diese kann auf „Kindes-Entzug“ lauten.

Ein Tipp, ein Wink von Nachbarn brachte der jungen Mutter das Jugendamt ins Haus. Verwahrlost sei die Wohnung, das Kleinkind verdreckt, seine Kleidung auch, geregelte Essens- und Schlafenszeiten gab es nicht. „Das haben die einfach so behauptet.“ So erzählt es Sunny, wenn man sie nach dem Grund ihrer Unterbringung im Christlichen Jugenddorf Zehnthof fragt.

Zwei Monate lebt sie mit ihrer 16 Monate alten Tochter bereits dort. Zwei Monate, in denen sie lernte, ihren Tag zu strukturieren, ihr Kind zu versorgen, ach, es überhaupt wahrzunehmen. „Früher habe ich viel fern gesehen und mich mal eine halbe Stunde mit meiner Tochter beschäftigt. Geraucht hab‘ ich viel zu viel, aber rausgegangen sind wir so gut wie nie.“

Dabei ist ihr das Kind nicht egal. „Ich wusste einfach nicht, was ich tun soll.“ Was, so sagt die mitte Zwanzigjährige, aus der eigenen Kindheit resultiere. „Wir haben regelmäßig Essen gekriegt.“ Weitere Erinnerungen? „Ich habe viel in der Ecke gesessen. Wurde viel gehauen.“ Doch was nimmt man aus diesen Kindheitserinnerungen mit als Anleitung, als Grundhaltung für die Erziehung späterer eigener Kinder? „Nichts“, sagt Sozialpädagogin Cornelia Neumann. Jeder liebt seine Kinder, so gut er es eben versteht, „aber wenn Sie ein Empfinden nicht haben, es nie gelernt haben, wie wollen Sie es als Erwachsener antrainieren?“

Kleine Schritte gehen die Betreuer der Clearing-Stelle im CJD mit den jungen Müttern, die zum dreimonatigen Aufenthalt kommen. „Früher waren wir eine klassische Mutter-Kind-Einrichtung. Damals sind die Frauen zwischen einem halben Jahr und vier Jahren bei uns geblieben. Aber für diese Form der Unterbringung haben die Städte einfach kein Geld mehr.“

Die Einrichtung strukturierte um: „Heute kommen Frauen zu uns, denen man bereits die Kinder entzogen hatte. Wenn die Kinder wieder in die Familien zurückgeführt werden, wollen Familienrichter oft, dass das begleitet geschieht.“ Immer häufiger aber auch, so Neumann, werde das Jugendamt eingeschaltet. „Nach dem Fall Kevin sind die Menschen sensibler. Da melden sich dann auch Nachbarn oder Mitarbeiter aus Krankenhäusern, wenn sie kein gutes Gefühl dabei haben, eine offensichtlich überforderte junge Frau mit ihrem Kind nach Hause zu entlassen.“ Dann gibt es Frauen wie Sunny, die allein mit ihren Kindern nicht leben können, Nachbarn auffallen.

Doch welcher Weg auch immer die Frauen ins CJD führt, es ist ein Scheideweg: „Nach drei Monaten müssen wir eine Empfehlung abgeben“, sagt Neumann. Bei guter Prognose rate man zum Rückzug in eine eigene Wohnung oder zur längerfristigen Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung. Kämen die Frauen mit der Sorge für das Kind jedoch überhaupt nicht zurecht und sei eine Gefährdung des Kindeswohls zu erkennen, könne die Empfehlung auch auf eine dauerhafte Trennung lauten.

Die Arbeit mit den jungen Frauen, sie gestaltet sich häufig schwierig. „Die meisten Mütter, die zu uns kommen, haben in der Kindheit selbst keine guten Erfahrungen gemacht.“ Hinzu komme häufig die Sprachlosigkeit: „Gerade Mädchen ist häufig gesagt worden: ,Halt die Klappe.‘ Sie haben nie gelernt, zu sprechen, sich mitzuteilen.“ Was auch den Umgang mit dem eigenen Kind schwierig gestalte. „Darum bieten wir ganzheitliche Methoden an. Babymassage zum Beispiel ist eine gute Möglichkeit, seine Gefühle auszudrücken, ohne dabei sprechen zu müssen.“

Wissen vermitteln die Mitarbeiter zudem in Kindergesprächen; altersgerechte Entwicklung, die Strukturierung des Tagesablaufs und Tipps zur sinnvollen Beschäftigung mit dem Kind sind dabei Thema. „Und wir arbeiten mit Videoaufnahmen. Meist sehen die Mütter ja selbst auf den ersten Blick, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Wenn eine Mutter zum Beispiel ein Kind auf der Wickelkommode liegen lässt und dann ein paar Schritte weggeht.“ Doch Fehler machen, Fehler zulassen, es wurde oft in den eigenen Elternhäusern nicht gelernt. „Das macht es für viele Frauen so schwer, sich zu öffnen, gute Ratschläge anzunehmen.“ Stets rechne man mit Abwertung, mit harscher Kritik. Da fehlt es am Urvertrauen, am Selbstvertrauen. Dabei ist es unsere Überzeugung, dass jede Frau, die hierher kommt, ihre Chance braucht. Wenn wir etwas sehen, das geändert oder verbessert werden müsste, geben wir der Mutter Gelegenheit, das zu tun. Reagiert sie darauf nicht, sagen wir sehr klar, dass wir mit dem Jugendamt Kontakt aufnehmen müssen.“

Eine Einstellung, ein Weg, dem auch Sunny gerne folgt: „Hier“, sagt sie nach zwei Monaten Aufenthalt, „ist meine Familie.“ Weil man es gut mit ihr meine, sie unterstütze. Einen Monat lang wird sie noch bleiben. „Meine Wohnung wird gerade aufgelöst. Da waren die Wände schimmelig.“ Dass das Jugendamt wohl recht hatte mit seiner Einschätzung der Verwahrlosung, heute räumt sie es ein, „Wenn ich sehe, was ich hier jetzt gelernt habe“, sehe sie rückblickend die Kindeswohlgefährdung. Dass sie noch immer viel lernen muss, auch das sieht Sunny klar.

„Ich bekomme im August mein zweites Kind.“ Ein Umzug, die Suche nach einer neuen Wohnung, sie seien im Moment zu stressig, „also wird sie mit dem dann geborenen Kind weitere drei Monate hier bleiben“, sagt Cornelia Neumann. Auf einem guten Weg befinde sich die junge Mutter. Was sie selbst sich für die Zukunft wünscht? Nun, sie hat einen Sonderschul-Abschluss nach Klasse 10, einen Beruf nie erlernt. Also träumt sie den Traum der meisten jungen Mütter in der Einrichtung: „Ich möchte eine Familie mit meinem neuen Verlobten. Und dass es den Kindern gut geht.“ Dann denkt sie kurz nach: „Damit meine Kinder einmal schöne Erinnerungen an ihre Kindheit haben.“