Essen-Rüttenscheid/Rellinghausen. Sie geht mit einem weinenden und einem lachenden Auge: Juliane Kühne verlässt Rüttenscheid. Wohin es sie mit ihrer Werkstatt zieht.
„Wir haben schon unglaublich viel rausgeschmissen, aber man sieht davon bislang noch absolut nichts.“ Buchbinderin Juliane Kühne blickt sich schon ein wenig verzweifelt in ihrer Werkstatt in Rüttenscheid um. Am 13. Mai kommen die Monteure, um die Maschinen auseinanderzunehmen. Am 30. Juni ist offiziell Schluss an der Sybillastraße, für diesen Tag ist die Schlüsselübergabe geplant.
Bis dahin können Kunden noch das ein oder andere Schnäppchen machen. Bis dahin aber ist vor allem noch jede Menge zu tun. Es muss aussortiert, gepackt und ja: auch erkundet werden: „Ich blicke gerade in Regalfächer ganz oben unter der Decke und in Bereiche der Werkstatt, in die ich in 25 Jahren noch nicht einmal geschaut habe.“ Was sie dort entdeckt, geht auf den Müll oder in den Verkauf, wie beispielsweise die handgearbeiteten Karteikästen für besonders große Pläne.
Ein Vierteljahrhundert, so lange ist es her, dass Kühne die Buchbinderei Löber übernommen hat. Namensgeber Wilhelm Löber hatte sie an der Kastanienallee in der Innenstadt gegründet, später übernahm sein Sohn Friedhelm. 70 Jahre hat die Werkstatt mittlerweile insgesamt „auf dem Buchrücken“. Längst ist Juliane Kühne die letzte ihrer Handwerkszunft in Essen, die einzige im Stadtgebiet, die Bücher noch per Hand bindet und repariert.
Essener Buchbinderin geht von Rüttenscheid nach Rellinghausen
Dass sie jetzt noch einmal an einem neuen Standort durchstarten will, sagt sie, habe mehrere Gründe: „Zum einen haben wir heute eine andere Art von Aufträgen als früher, für die wir einfach nicht mehr so viel Platz benötigen. Zeitungsausgaben zum Beispiel binden wir nur noch für eine einzige Redaktion.“ Von 150 Quadratmetern in einem Mehrfamilienhaus in Rüttenscheid geht es deshalb runter auf 100 Quadratmeter an der Frankenstraße in Rellinghausen. Der Vorteil dort: mehr Parkplätze und weniger Kosten. „Die Mieten in Rüttenscheid sind in den letzten Jahren extrem gestiegen.“
Vieles geht mit zum neuen Standort. „Einzelne Geräte haben wir aber auch noch ein zweites Mal unten im Keller, sodass wir hier gezielt aussortieren und entsorgen.“ Wenn etwa die 1,3 Tonnen schwere Schneidemaschine aus dem Jahr 1973 Mitte Mai via Gabelstapler den Weg durch eines der hinteren Werkstattfenster antritt, wird das ihre letzte Reise sein. Die Bremsbeläge sind kaputt, ein „sicherheitsrelevanter Defekt“, der in der Reparatur viel zu teuer ist. Die gut 400 Kilogramm schwere hydraulische Presse hingegen kommt mit an die Frankenstraße. Auch sie wird über das Fenster verladen – „anders ist hier einfach kein Durchkommen“.
Räumungsverkauf in Rüttenscheid läuft
Spätestens Anfang Juni möchte die Buchbinderin in den neuen Räumen in Rellinghausen bereits wieder arbeiten. Die „letzten Baustellen“ am alten Standort in Rüttenscheid übernimmt dann ihr Mann Peter Puk – im Betrieb bislang zuständig für den Bereich Einrahmungen. „Diese Sparte fällt bei uns künftig weg. Ich bin jetzt 69 Jahre, ich möchte ein wenig kürzertreten.“ Das noch vorhandene Material für die Rahmungen, sagt Puk, „übernimmt mit Sabine Schmid ein sehr engagierte Schreinerin aus Heidhausen“. Musterrahmen samt Bildern allerdings gehen ebenfalls in den Räumungsverkauf.
Gelbe Post-its markieren derzeit all jene Gegenstände – neben Bildern auch Mappen, Bücher, Vitrinen, Schränke oder ein schwerer Lithografiestein – die Kühne und Puk kurzfristig abzugeben haben. „Alles muss raus“, vieles davon für kleines Geld zwischen zwei und 50 Euro. Ein Antiquar interessiere sich bereits für einen Teil des Fachwerkzeugs, ein Second-Hand-Händler hat seinen Besuch ebenfalls bereits angekündigt, um sich einzelne Schränke anzusehen. Puk: „Wer Interesse hat, kann immer freitags zwischen 13 und 17 Uhr bei uns vorbeischauen, um nachzufragen, was wir verkaufen oder abgeben möchten. Vieles stellen wir auch ins Fenster.“
Abverkauf
In der Buchbinderei Löber stehen derzeit zahlreiche Gegenstände aus dem Bestand zum Verkauf: Bilder, Rahmen, Einrichtungsgegenstände.
Wer Interesse hat, kann immer freitags zwischen 13 und 17 Uhr an der Sibyllastraße 12 vorbeischauen: https://buchbindereiloeber.de/
Die neue Werkstatt eröffnet voraussichtlich im Juni an der Frankenstraße 52 in Essen-Rellinghausen.
An diesem Tag klingelt die Türschelle an der Sibyllastraße beinahe im Fünf-Minuten-Takt – eine Botin, die eine Auftragsarbeit abholt, eine Kundin, die eines der Bilder im Schaufenster kaufen möchte, eine Nachbarin, die sich erkundigt, wie lange das Ehepaar noch vor Ort ist. Genau: die Nachbarschaft. „Die Menschen hier, die Umgebung, das wird mir schon sehr fehlen“, gesteht Juliane Kühne. Und stellt sofort klar: „Dem jährlichen Markt der Hofwerkstatt an der Sibyllastraße 15 werden wir auch zukünftig treu bleiben. Am 9. und 10. November sind wir in diesem Jahr auf jeden Fall dabei, wir gehören ja zum Organisationsteam.“
Treu bleiben wollen sich Kühne und Puk auch selbst. Der „Charme dieser alten Werkstatt“ soll ebenfalls mitumziehen. Zumindest ein Stückweit. Angefangen mit der alten Theke aus den 1960er-Jahren. Alles andere würde irgendwie auch nur schlecht passen zur letzten Buchbinderin von Essen, deren ganzer Stolz eine Messeneuheit von 1961 ist: eine Lumbeck-Maschine für Klebebindungen. „Diese alte Maschine“, sagt Kühne und tätschelt das Gerät sanft, „wird mich noch um Jahrzehnte überleben“.
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