Essen-Frohnhausen. Betreuer helfen dabei, dass der Start ins Erwachsenenleben gelingt. Denn wer bei Phoenix einzieht, hat schon viel durchgemacht.
Drei Jahre sind eine halbe Ewigkeit, wenn man an der Schwelle von der Jugend zum Erwachsenenalter steht. Alles ändert sich, alles ist neu. Wenn man aber eine Geschichte im Gepäck hat wie Jessica, wie Rita, wie Jason* (Name geändert), wenn man die Zeit nutzen muss, um nachzuholen, was für andere normal ist, um zu verarbeiten, was andere nicht erlebt haben, dann können drei Jahre schrecklich kurz sein.
Die drei leben im Essener Westen, im Wohnprojekt Phoenix. Ein Team von Pädagogen und Sozialarbeitern des Trägers „Vielfalt im Ruhrgebiet“ (ViR) betreut dort Jugendliche, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr bei ihren Eltern leben können, und junge geflüchtete Menschen.
Essener Jugendliche haben vor ihrem Einzug in die Wohngruppe viel durchgemacht
Innerhalb von drei Jahren sollen sie lernen, allein klarzukommen im Erwachsenenleben – mit Wohnung, Job und allem, was dazugehört. „Wir können ab 16 aufnehmen, aber schätzungsweise über 90 Prozent der Neuaufnahmen sind 18 oder fast 18 Jahre alt“, erklärt Keewan Othman. Er ist Fachbereichsleiter Stationäre Erziehungshilfen für Jugendliche bei ViR, hat die Wohngruppe bis vor einigen Monaten geleitet.
Wer in einem Jugendhilfe-Wohnprojekt wie Phoenix ankommt, hat schon viel durchgemacht: So wie die 20-jährige Rita, die mit 15 zwangsverheiratet werden sollte, und aus Angola geflohen ist. So wie die 19-jährige Jessica, die es mit ihrer alkoholkranken Mutter nicht mehr ausgehalten hat, und kurz vor ihrem 17. Geburtstag herkam. So wie der 16-jährige Jason, der zu Hause rausgeflogen ist und derzeit vor allem ein großes Ziel für seine Zukunft hat: „Nicht ins Gefängnis kommen.“
Jugendamt entscheidet, wer in die Wohngruppe in Frohnhausen ziehen darf
Der erste Kontakt mit den jungen Menschen kommt meist über das Jugendamt zustande, etwa weil sie bereits Unterstützung erhalten, zum Beispiel in Regelwohngruppen für Kinder und Jugendliche wohnen, oder als unbegleitete minderjährige Geflüchtete betreut werden. Wer einziehen darf, entscheidet ebenfalls das Jugendamt; das Betreuerteam kann allenfalls ein Veto dagegen einlegen. „Wir könnten Nein sagen, aber in acht Jahren haben wir das noch nie gemacht. Jeder hat eine Chance verdient“, sagt Keewan Othman. Allerdings gebe es seit Corona eine lange Warteliste.
Anfangs sei die Betreuung sehr eng, dann würde sie nach und nach gelockert. „Es geht bei uns um lebenspraktische Kompetenzen, aber auch darum, die Jugendlichen emotional aufzufangen, denn die emotionale Verfassung ist die Grundlage für Verselbstständigung.“
Wenn alles gut läuft, ziehen die Jugendlichen nach einer Weile aus der Wohngruppe, wo rund um die Uhr ein Betreuer anwesend ist, in eine eigene Trainingswohnung im direkten Umfeld. Auch dort werden sie weiter begleitet, damit der Schnitt nicht „zu krass“ ist. Trotzdem bekommt Othman oft die Rückmeldung, dass die ersten Monate in der eigenen Wohnung „die Hölle“ seien.
Mit 21 Jahren endet die Jugendhilfe für die jungen Erwachsenen
Etwa sechs Monate vor dem 21. Geburtstag gehe es dann für die meisten in die „echte“ eigene Wohnung. Das halbe Jahr diene zur Überbrückung, damit man die jungen Erwachsenen noch eine Weile weiter betreuen und ihnen die Umgewöhnung erleichtern könne, so Othman. „Ab 21 kräht kein Hahn mehr nach ihnen.“ Denn dann endet die Jugendhilfe im Regelfall.
Das bedeute auch, dass „wir einen gewissen Druck weitergeben müssen“. Phoenix sei der letzte Meilenstein im Rahmen von Jugendhilfemaßnahmen: „Wir haben die große Verantwortung auf den letzten Metern.“ Dafür, so sagt Othman, könnte man durchaus noch mehr Zeit gebrauchen als bloß drei Jahre.
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Rita, 20: „Ich wünsche mir ein stabiles Leben.“
Rita kommt gerade von der Arbeit. Vor zwei Monaten hat sie in Bochum ihre Ausbildung zur Zahnarzthelferin angefangen, ihr Traumberuf, wobei sie auch gern Schauspielerin werden würde – „aber das ist nur so eine Fantasie“. Eigentlich wollte sie auch noch ein Jahr länger zur Schule gehen, aber weil die Abschiebung drohte, musste dieser Plan kurzerhand gekippt werden.
Nun also die dreijährige Ausbildung, danach kann sie eine Arbeitserlaubnis für zwei Jahre bekommen, und anschließend eine Niederlassungserlaubnis beantragen. Diese Unsicherheit nagt an ihr, denn mittlerweile will sie nicht mehr in die alte Heimat zurück.
Essenerin hat Pläne für ihre Zukunft in Deutschland
Mit 15 sollte sie dort zwangsverheiratet werden, mit einem deutlich älteren Mann – des Geldes wegen. Die Mutter verhalf ihr zur Flucht: „Sie macht Urlaub“, habe sie den Verwandten gesagt, und die Tochter weggeschickt. Das war 2019.
Anfangs hielt Rita es kaum aus vor Heimweh und Sehnsucht nach der Mutter und ihren Geschwistern: „Ich habe mich so allein gefühlt.“ Doch heute hat sie Pläne: den Führerschein machen, im Sommer in eine Trainingswohnung ziehen, irgendwann auch mal die Mutter besuchen, die Ausbildung abschließen und dann ihren größten Wunsch erfüllen: „ein stabiles Leben“.
Jessica, 19: „Mein Leben geht jetzt in eine richtige Richtung.“
Jessicas Familie wurde lange Zeit vom Jugendamt begleitet, unter anderem wegen der Alkoholsucht der Mutter. „Es hat bloß nicht viel gebracht“, sagt die 19-Jährige. Mit 16 ist sie in die Wohngruppe gezogen, nachdem sie lange über diesen Schritt nachgedacht hatte: „Es hat sich zu Hause einfach nicht mehr wie ein Zuhause angefühlt.“
Zwei Wochen später wurde sie 17: „der schlimmste Geburtstag meines Lebens“. Ein paar Wochen habe es gedauert, „bis ich gecheckt habe, dass ich nicht mehr zurückgehe“. Mittlerweile konnte sie in eine Trainingswohnung ziehen: „Mein Leben geht jetzt in eine richtige Richtung“, sagt sie. Halt geben ihr auch ihre Geschwister, heute 15 und 13, die sie „sehr liebt“. Auch zu ihrer Tante und ihrem Onkel hat sie ein gutes Verhältnis: „Die beiden waren und sind immer für mich da.“
Essenerin will nach Wohngruppen-Erfahrung Soziale Arbeit studieren
Zu ihren Eltern hat sie allerdings kaum noch Kontakt: „Nur, wenn man reden muss. Solange mich das immer nur traurig macht, brauche ich das nicht.“ Denn meist bekomme sie Vorwürfe zu hören: Weil ihre Geschwister mittlerweile auf Initiative des Jugendamtes zu Hause ausziehen mussten, würden ihre Eltern behaupten, sie habe die Familie zerstört.
Abgeschlossen hat Jessica mit ihrer Vergangenheit nicht: „Ich werde noch lange brauchen, um das alles zu verarbeiten.“ Aber sie will etwas daraus machen, mit einem Studium der Sozialen Arbeit: „Ich bin dankbar dafür, dass es Menschen gab, die mich damals aufgefangen haben – ich möchte genauso anderen helfen.“
Jason, 16: „Ich muss an vielen Sachen arbeiten.“
Gerade hat Jason 30 Sozialstunden im Jugendzentrum abgeleistet: mit Kindern Hausaufgaben gemacht, aber auch geputzt, „Drecksarbeit eben“. Doch im Großen und Ganzen hat es ihm gut gefallen. So gut, dass er sich wünscht, ein Praktikum dort zu machen. Statt Schule, denn da geht er längst nicht mehr hin.
„Vielleicht sagen sie Ja“, sagt Jason, „ich habe mich von meiner besten Seite gezeigt“. Das will was heißen für einen Jungen, der als „jugendlicher Intensivstraftäter“ gilt: Raubüberfälle, Körperverletzungen – mit 13 oder 14 sei es damit losgegangen. „Man geht raus, und dann eskaliert das. Ich kann mir das selbst nicht erklären“, sagt der 16-Jährige.
„Die falschen Freunde“, mutmaßen die Betreuer, hinzu kämen Drogen, und nicht näher identifizierte psychische Probleme. Die Diagnostik stehe als Nächstes an, dann erst könne man den richtigen Weg für Jason finden. Seit kurzem erst kennt der 16-Jährige seinen leiblichen Vater, zu dem er ein gutes Verhältnis entwickelt hat.
„Ich muss an vielen Sachen arbeiten“, sagt Jason selbst. In der Wohngruppe verstehe er sich mit allen gut. Nachdem er in den vergangenen Jahren von einer Pflegefamilie zur Inobhutnahmegruppe zur Notschlafstelle gewandert ist, könnte er nun erstmals wirklich angekommen sein.
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