Essen. Christian Baumann, ein Sprecher von „Essen stellt sich quer“, über rechte Tabubrüche, rote Linien – und warum Hass sich auf AfD reimt.

Dieses Interview erschien zum ersten Mal am 7. Februar 2024

Herr Baumann, die große Demo gegen rechte Umtriebe von „Essen stellt sich quer“ ist nun schon eine ganze Weile her. Sie sind wieder nüchtern, nehmen wir an?

Christian Baumann: (lacht) Sie meinen, weil wir so freudetrunken waren? Aber ja doch, danke.

Nur 500 Leute anzumelden, und dann zieht ein Vielfaches davon durch Rüttenscheid – war das eigentlich eine echte Überraschung? Oder hatten Sie insgeheim schon im Gefühl, dass sich da was dreht?

Zunächst tatsächlich nicht. Wir hatten intern philosophiert, wie viele wir denn werden können, tippten erst auf 300, weil wir dachten, das wäre ein realistisches Potenzial. Und merkten dann durch die sozialen Medien, wie das von ganz verschiedenen Leuten mit ganz unterschiedlicher Stoßwirkung sehr stark beworben wurde. Aber es gab eben auch nur eine sehr kurze Vorlaufzeit, das Wetter hat nicht gut gepasst. Und anders als in Duisburg, wo die AfD sich zuvor zum Neujahrsempfang traf, hatten wir keinen symbolträchtigen Ort, vor den wir uns hätten stellen können. Deshalb haben wir „nur“ auf 500 erhöht.

Am Ende dürften es gut 7000 gewesen sein. Und per Megaphon wurde skandiert: „Ganz Essen hasst die AfD“. Na ja. Mal abgesehen davon, dass manchem dieser Slogan vom Hass nicht über die Lippen kam, eine fürchterliche Übertreibung, oder?

Ja, der Spruch ist vielleicht ein wenig verkürzt. Man hätte das anders sagen können, aber auf einer Demo brauchen Sie notwendigerweise eine Zuspitzung, der Reim muss passen. Und was die Zahl angeht: Immerhin haben wir damit die größte Versammlung der letzten zehn, zwanzig Jahre in Essen auf die Beine gestellt. Es war jedenfalls ein deutliches Zeichen...

Auch Kälte und die kurze Vorlaufzeit hinderten Mitte Januar bei einer der bundesweit ersten Anti-AfD-Demos in Essen rund 7000 Demo-Teilnehmer nicht daran, durch Rüttenscheid zu marschieren.
Auch Kälte und die kurze Vorlaufzeit hinderten Mitte Januar bei einer der bundesweit ersten Anti-AfD-Demos in Essen rund 7000 Demo-Teilnehmer nicht daran, durch Rüttenscheid zu marschieren. © Essen | Kerstin Kokoska

...und Essen im Reigen der Proteste früh dran. Die folgenden Demos mit deutlich mehr Vorlaufzeit brachten dann mancherorts Zehntausende auf die Straße, und die Welle reißt nicht ab. Was ist da passiert? Alles nur, weil dieses Geheimtreffen in Potsdam mit gar nicht so geheimen Fantasien ruchbar wurde?

Ich würde behaupten, dass wir in den letzten gut zehn Jahren bei der AfD eine konstante Verschiebung des Sagbaren und der roten Linien gesehen haben. Die Partei kokettiert mit Tabubrüchen, und sie braucht diese auch, um immer weiter nach rechts zu driften, denn das ist ihr eigentliches Ziel. Eigentlich brüstet die AfD sich auch mit dem, was da aufgedeckt wurde, und offenbart damit, dass das nicht nur an ihren Rändern, beim früheren „Flügel“ Position ist. Das ist kein Ost-Problem, kein Thüringen-Problem und kein Höcke-Problem. Sondern ein bundesweites.

Zur Person: Christian Baumann

Christian Baumann, 37 Jahre alt, von Beruf Informatiker ist nach eigenem Bekunden „politischer Spätzünder“. Vorher auf diesem Feld eher desinteressiert wurde er aus purer Empörung im Zuge der Plagiatsaffäre von Ex-Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg aktiv.

Sein Einsatz gegen Rechts rührt aus seiner Studienzeit in Magdeburg, wo er mit einer großen rechtsradikalen Szene konfrontiert wurde, die ihm – wohl der langen Haare wegen – auch schon mal Gleisschotter-Steine hinterherwarf. Seit 2019 ist Baumann einer von vier Sprechern des Anti-Rechts-Bündnisses „Essen stellt sich quer“.

Dieses Gefühl scheint viele beschlichen zu haben. Man hat den Eindruck, dieser Protest gegen die AfD hat Bevölkerungskreise erreicht, die vorher sagten: Ja ja, lass die „Berufsdemonstranten“ mal rausgehen.

Ja, definitiv. Das zeigen die Zahlen und war auch unser Eindruck: dass wir viele zum ersten Mal erreicht haben. Leute, die sagen: Menschenskinder, wir müssen was tun. Das kann doch nicht wahr sein. Nicht mit unserer Geschichte.

Massenhaft Protest zu mobilisieren war für Sie bis dahin ja eher die Ausnahme als die Regel. Woher nahmen und nehmen Sie als Bündnis eigentlich die Energie zu sagen: Wir machen es, auch wenn eh wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ kommen?

Wir wollen für eine bessere Zukunft der Gesellschaft eintreten, und ich glaube nicht, dass es immer nur dieselben Leute waren. „Essen stellt sich quer“ hat ja den großen Vorteil, nicht nur eine kleine Gruppe von Aktiven zu sein, sondern ein Bündnis mit 23 Organisationen und Initiativen. Die bilden ein wahnsinniges Spektrum in dieser Stadt ab.

Dass der Zug zur Grugahalle bei der Anti-AfD-Demo durchaus symbolischen Charakter hat, wurde erst später klar: Hier will die Partei Ende Juni ihren Bundesparteitag abhalten.
Dass der Zug zur Grugahalle bei der Anti-AfD-Demo durchaus symbolischen Charakter hat, wurde erst später klar: Hier will die Partei Ende Juni ihren Bundesparteitag abhalten. © Essen | Kerstin Kokoska

Allerdings eines mit linker Schlagseite und blinden Flecken im bürgerlichen Lager. Hätten sie gerne mehr Kontakte zum Beispiel in die CDU oder FDP?

Unser Bündnis steht erstmal jedem und jeder offen, die sich unserem Selbstverständnis anschließen können. Das hat bislang bei CDU und FDP noch nicht funktioniert, wenngleich man auch sagen muss, dass wir Oberbürgermeister Thomas Kufen mehrfach zu Veranstaltungen eingeladen haben und auch als Redner haben gewinnen können. Es gibt aber immer wieder gewisse Vorbehalte uns gegenüber, wo ich sagen würde: Wir sind uns auch nicht in allen Themen einig, aber wir kommen eben in dieser einen Frage zusammen, dass wir geschlossen gegen Rechtsradikalismus und Faschismus stehen müssen.

Liegt das Problem auf der ganz linken Seite? Dass da Leute mitmarschieren, die teils auch vom Verfassungsschutz beobachtet werden?

Da müssten Sie wahrscheinlich die CDU fragen.

Das könnten sie doch auch tun, CDU-Chef Matthias Hauer anrufen und sagen: Wie wär‘s, wenn Sie auch mit dabei wären?

Ich habe da ehrlich gesagt gar keine Telefonnummer parat.

Wer steckt hinter „Essen stellt sich quer“?

Im BündnisEssen stellt sich quer“ haben sich vor mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten zahlreiche politische Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um „gegen Rassismus und Faschismus, gegen alte und neue Nazi-Umtriebe“ aktiv zu sein, wie es in einem Selbstporträt heißt. Man ist nach eigenen Angaben parteipolitisch und religiös nicht gebunden und finanziell unabhängig.

Zu den Mitgliedern, die sich regelmäßig am ersten und am dritten Montag im Monat treffen, zählen unter anderem die Arbeiterwohlfahrt und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), verschiedene Privatpersonen und Parteien, so etwa SPD, Grüne und Linke, aber auch die DKP. Mehr zum Selbstverständnis unter https://essq.de/.

Daran soll‘s nicht scheitern, wir könnten aushelfen. Will sagen: Sie könnten ja aktiv auf das bürgerliche Spektrum zugehen, um damit eine größere Breitenwirkung erzielen. Das müsste doch eigentlich Ihr Ziel sein.

Das findet themenbezogen immer wieder auch mal statt. Als wir etwa in Steele gegen die Vereinnahmung des Stadtteils durch die Steeler Jungs demonstriert haben: „Der Pott bleibt unteilbar“. Da gab es auch Einladungen an alle Parteien, sich zu beteiligen, aber von den Genannten waren wenige zu sehen, um es vorsichtig auszudrücken.

So oder so: Die Begeisterung darüber, dass man so viele Menschen erreicht hat, wird sich irgendwann wieder legen, wie immer in solchen Fällen. Was die Frage aufwirft: Was dann?

Ja, das ist eine gute Frage. Wir haben kein Patentrezept. Es gibt nicht das eine wirksame Mittel gegen das Erstarken von rechtsextremen Kräften. Der Protest ist ja nur der sichtbare Teil.

Christian Baumann weiß, dass viel Zuspruch auch „Essen stellt sich quer“ mobilisiert: „sich zu vergewissern: Ach ja, wir sind gar nicht nur unter uns“.
Christian Baumann weiß, dass viel Zuspruch auch „Essen stellt sich quer“ mobilisiert: „sich zu vergewissern: Ach ja, wir sind gar nicht nur unter uns“. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

In der Tat: Empören kann ich mich auch auf dem heimischen Sofa...

...und diese Empörungswelle rollt jetzt einmal durch Deutschland. So eine Demonstration ist immer schön, um sich noch mal zu vergewissern: Ach ja, wir sind gar nicht nur unter uns. Demos sind ja nicht für jeden was. Vielleicht fragen sich auch manche Leute, ob Parolen eigentlich nur einen einzigen Wähler davon abhalten, sein Kreuz bei der AfD zu machen. Aber sie politisieren zugleich Menschen, die sich klar machen: Ich kann nicht nur auf dem Sofa sitzen, ich muss auch irgendwas tun. Und auf diesem „irgendwas“ muss jetzt die Konzentration liegen.

Konzentration also auf was?

Wir setzen auf Gespräche, die sind das Gebot der Stunde für uns als Bündnis. Wir wollen noch mehr in Aufklärung und Bildungsarbeit investieren, aber auch Angebote machen. Viele fragen uns: Wie kann ich mich gegen Parolen der AfD wehren?

Oft werden Parolen mit Parolen beantwortet. AfD gleich Nazis, das ist für manchen dann doch arg holzschnittartig. Einige gehörten doch gestern noch der SPD, der CDU, der FDP an. Täte dem Protest nicht auch ein bisschen mehr Unterscheidung gut, oder brauchen Sie diese extreme Zuspitzung, um Erfolg zu haben?

Ich glaube, es geht gar nicht so sehr um den Erfolg. Natürlich ist nicht jeder in der AfD ein klassischer Nationalsozialist. So ein Wort unterliegt in seinem Gebrauch ja auch einem Wandel.

Late Night-Talker Harald Schmidt hat mal gespottet, wenn der Schulhausmeister den Pennälern am Nachmittag die Turnhalle nicht aufgeschlossen hat, war er für die Schüler ein Nazi. Und doch: Sorgt die Zuspitzung, die ja selbst der NRW-Ministerpräsident akzeptiert, wenn er von der AfD als „Nazi-Partei“ spricht, am Ende nicht für Solidaritätseffekte im rechten Lager?

Mag sein, aber sie eint eben auch uns. Das ist ein total wichtiges Zeichen und eine Lehre aus der Weimarer Republik, wo man hinterher gesagt hat: Hätten doch nur alle Demokraten zusammengehalten gegen Rechts...

Der Mobilisierung der AfD etwas entgegensetzen: Dies hat sich „Essen stellt sich quer“ zur Aufgabe gemacht und will künftig noch mehr in Bildungsarbeit investieren.
Der Mobilisierung der AfD etwas entgegensetzen: Dies hat sich „Essen stellt sich quer“ zur Aufgabe gemacht und will künftig noch mehr in Bildungsarbeit investieren. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Von Weimarer Parallelen haben viele schon vor Jahren geredet – und Augenrollen geerntet. Damals hieß es: Was soll‘s, die AfD kommt eh nur auf sieben, acht Prozent. Heute sind es um die 20.

Das war ein schleichender Prozess der Etablierung, an den man sich gewöhnt. Wenn ich mir die Frage stelle: Wo sind eigentlich meine politischen Haltelinien, und wo waren sie noch vor fünf Jahren? Dann würde ich sagen: Meine roten Linien waren früher mal woanders. Im Protest zeigt sich jetzt, dass vielen klar wird: Hier hängt doch was ganz gewaltig schief. Die AfD ist sehr gut darin, die Mobilisierten auch mobilisiert zu halten. Die nehmen an Wahlen teil, bringen sich online ein, sind aktiv in sozialen Medien. Gerade diese Aktiven in der AfD brechen ganz oft auch die Kontakte zu Familie und Freunden ab und fühlen sich in ihrem Weltbild bestätigt, wenn gegen die AfD „geschossen“ wird. Ich glaube nicht, dass man jemanden durch eine Demonstration „bekehrt“ kriegt.

Schon im Gespräch zu bleiben, bringen viele nicht übers Herz.

Das ist auch fürchterlich schwierig, wenn Leute sich in einer Echokammer aufhalten, wo sie auch für Fakten und Argumente nicht mehr zugänglich sind. Natürlich ist es einfacher zu sagen, du hast dich verrannt, das war‘s jetzt mit uns.

Was einen zu der Frage führt: Gibt es denn irgendeinen Kontakt von „Essen stellt sich quer“ in die örtliche AfD-Szene?

Nein. Ich denke, wir sind uns da alle einig, dass man mit Leuten, die sich in der Partei oder der Ratsfraktion derart aktiv einbringen, die Diskussion nicht mehr suchen muss, weil das Weltbild so verfestigt ist.

Und wenn‘s Ihr Nachbar wäre?

Mit dem würde ich tatsächlich diskutieren. Aber nicht mit Parteifunktionären, die sich durch besondere Aktivitäten ausgezeichnet haben, die auch eigene AfD-Positionen verfassen.

Dabei fällt auf, dass es auch in der AfD Unterschiede gibt, dass die einen nicht mit den anderen können. In Essen ist die Partei ja weitaus zurückhaltender als etwa in Duisburg.

Manche sind lauter als andere, das stimmt, und Duisburg deutlich radikaler, jedenfalls nach außen. Der Zuspruch für die Essener Partei ist wohl vor allem auf die Bundes-AfD zurückzuführen, nicht auf die überbordend gute Arbeit der AfD-Fraktion oder -Partei hier vor Ort. Gleichzeitig stehen sie ja für die Bundespartei, und wenn ich den Verbal-Radikalismus anschaue, ist da wohl inhaltlich kein großer Unterschied.

„Nie wieder ist jetzt“, so hieß das Motto ihrer Demo, die so viele aufgerüttelt hat. Die nächste zu einem möglichen Essener Bundesparteitag in der Grugahalle ist schon angemeldet. Wie stellt man sich denn sonst noch quer in Essen? Agieren Sie auch, oder reagieren Sie nur?

Es wird wohl punktuelle Gegenaktionen geben, anlass- oder themenbezogen. Dabei wird‘s aber nicht bleiben. Wie gesagt, wir wollen in Bildungsarbeit und Aufklärung investieren, und das kontinuierlich. Und wir wollen nicht zu viel verraten. Die AfD schläft nicht, und wir werden das auch nicht tun.

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