Essen-Bergerhausen. Die Behinderung des Sohnes sorgte für beruflichen Neustart: Essenerin arbeitet seit Jahren für das Integrationsmodell. Jetzt geht sie in Rente.
Eigentlich wollte Magdalene Merkel Lehrerin werden, studierte Schulmusik und evangelische Theologie, arbeitete als Kirchenmusikerin. Doch dann kam alles anders: 22 Jahre pflegte Merkel ihren behinderten Sohn, zwischenzeitlich auch ihre an Alzheimer erkrankte Mutter. Vor gut vier Jahren hat sie dann das Integrationsmodell Essen der evangelischen Kirche auf der Billebrinkhöhe übernommen.
Seitdem hat sich der Standort in Bergerhausen zum Zentrum für inklusive Kultur entwickelt. Aufgebaut wurden die Angebote von Magdalene Merkel. Die Hausleiterin geht jetzt mit fast 66 Jahren in den Ruhestand. Ihre Nachfolger stehen bereits fest.
Der erste Sohn der Essenerin kam mit einer Behinderung zur Welt
Merkels erstgeborener Sohn leidet unter Hydrozephalus, einer krankhaften Erweiterung der Gehirnkammern, umgangssprachlich Wasserkopf genannt. Er habe an die 30 Operationen hinter sich, werde sehr schnell müde. Es sei eine „Art unsichtbarer Behinderung“, sagt Merkel, insgesamt Mutter von vier Kindern.
Ihren Sohn habe sie zu Hause gepflegt, bis das Integrationsmodell Essen nach langer Planungsphase seine erste Wohngruppe für Menschen mit Behinderung eröffnete. Das habe auch für ihren Sohn, heute 36, neue Möglichkeiten eröffnet. Ihr Sohn habe die Krankheit in einer mittleren Ausprägung. Er könne laufen, sprechen und lesen, speichere Informationen sehr gut ab und könne einige Stunden am Tag arbeiten. Bis heute lebt er in einer Wohngruppe.
„Das war mein erster Kontakt mit dem Integrationsmodell“, erinnert sich Merkel. Nach zwei Jahrzehnten zu Hause habe sie nicht zurück in ihren Beruf als Kirchenmusikerin gekonnt. „Nach so langer Zeit, in der man nicht geübt hat, geht das nicht mehr.“
Nach dem Auszug des Sohnes bewarb sich die Mutter beim Integrationsmodell
Nach dem Auszug ihres Sohnes und dem Tod der Mutter habe sie sich beim Integrationsmodell beworben. „Es war völlig offen, welche Aufgaben ich dort übernehmen konnte. Ich war ja fachfremd“, blickt sie zurück. Schließlich baute sie die Ehrenamtsarbeit auf. Das sei komplettes Neuland gewesen. „Es gab noch keine Ehrenamtlichen in diesem Bereich, es gab für mich keine Vorgaben, aber auch keine Hilfen.“
Inzwischen seien es immerhin 70 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die Menschen mit Behinderung unterstützten. Das Integrationsmodell Essen unterhalte 16 Wohngruppen und zwei Häuser, in denen rund 170 Menschen zwischen 18 und 80 Jahren mit den unterschiedlichsten Behinderungen lebten.
Der Anfang in Sachen Ehrenamtsarbeit sei nicht einfach gewesen. So habe ein 14-jähriges Mädchen, das sich in einer Wohngruppe für Erwachsene mit körperlichen Einschränkungen engagieren wollte, dies nicht gedurft. Also habe man eine andere Betätigung für die Jugendliche gefunden. „Sie hat schließlich Menschen beim Kegeln im Haus der Begegnung begleitet“, so Merkel, die für ihr Engagement 2020 mit dem Rheinlandtaler ausgezeichnet wurde.
Ehrenamtliche Tätigkeit muss auch den Helfern Spaß machen
Nicht nur die Wünsche der Menschen mit Behinderung seien wichtig, sondern auch die der Ehrenamtlichen. „Keiner soll das aus reiner Barmherzigkeit tun, es muss schon allen Spaß machen“, ist Merkel überzeugt. So habe sie einer pensionierten Kosmetikerin, die mit Behinderten Gesellschaftsspiele machen wollte, geraten, ihnen doch lieber kosmetische Behandlungen zu bieten – was für beide Seiten ein Gewinn gewesen sei.
Seit der Übernahme der ehemaligen Kirche auf der Billebrinkhöhe gebe es Räume und Möglichkeiten für eine vielfältige Kulturarbeit von der Mal- bis zur Theatergruppe für Menschen mit und ohne Behinderung. Das Angebot, das Merkel dort in den letzten Jahren aufgebaut hat, werden jetzt andere organisieren.
Jürgen Berger (58) und Kerstin Wißing (38) teilen sich die Stelle von Magdalene Merkel. Beide habe auf der Billebrinkhöhe je eine halbe Stelle und leiten noch jeweils eine Wohngruppe des Integrationsmodells, Berger in Huttrop, Wißing in Altenessen. Beide kommen aus der Sozialarbeit, Kerstin Wißing ist zudem Heilpädagogin.
Beide sind seit vielen Jahren beim Integrationsmodell beschäftigt, haben schon in einer Wohngruppe zusammengearbeitet. Sie freuen sich auf die neuen Aufgaben, auch wenn ihnen bewusst sei, dass viel Arbeit, auch an Wochenenden, auf sie zukomme. „Deshalb folgte eine durchaus intensive Phase des Überlegens, nachdem ich angesprochen worden war, ob ich mir den Job vorstellen könne. Da muss schon der Partner mitspielen“, sagt Berger.
Die Nachfolger werden bereits eingearbeitet
Gemeinsam mit Kerstin Wißing wird er die Ehrenamtlichen betreuen, Räume vergeben, Geräte bereitstellen und Angebote koordinieren. Noch bis Ende Februar werden beide von Magdalene Merkel eingearbeitet, für die ihr Job in der Behindertenarbeit zur echten Lebensaufgabe geworden ist.
Sie verlasse „ihr Baby“, die Billebrinkhöhe, mit einem lachenden Auge. Das Projekt sei auf einem guten Weg. „Wenn mich jemand um Rat fragt, helfe ich gern. Aber ich werde nicht mehr aktiv mitmischen. Man muss dem Neuen auch Raum geben, sich zu entwickeln. Aber natürlich bekomme ich das Zentrum und seine Arbeit weder aus dem Kopf, noch aus dem Herzen und werde als Gast gelegentlich die Kulturveranstaltungen besuchen.“
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