Essen. Die Evangelische Kirche legt eine Missbrauchs-Studie vor. Der Kirchenkreis Essen sagt, wie er Kindergottesdienst, Chor oder Kita schützen will.

Schuld, Scham und Schweigen – das ist ein Dreiklang, den viele Menschen mit der Katholischen Kirche verbinden, die beim Thema Missbrauch lange Zeit weggeschaut hat. Die Evangelische Kirche will es besser machen und legt am Donnerstag (25.1.) die Forum-Studie vor, die Geschehenes aufarbeiten und Anregungen für einen besseren Schutz von Gläubigen und Schutzempfohlenen geben will. „Ich bin sehr dankbar für die Studie, auch wenn die Aufklärung viel Schmerzhaftes mitbringen wird“, sagt Essens Superintendentin Marion Greve. Im Kirchenkreis habe man die Prävention schon länger auf der Agenda.

Die Abkürzung Forum steht für „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie“. Die Studie der unabhängigen Wissenschaftler nimmt neben den hauptamtlichen auch ehrenamtliche Mitarbeiter in den Blick; schon damit unterscheide man sich von der katholischen Kirche, sagt Marion Greve.

Dunkle Ecken im Gemeindezentrum und andere „Ermöglichungsstrukturen“

Weitere Besonderheit ist die Einbeziehung der Diakonie: Hier wie in allen kirchlichen Gliederungen wolle man nicht nur frühere Missbrauchsfälle aufarbeiten, sondern auch zukünftige verhindern. „Es geht darum, Ermöglichungsstrukturen zu erkennen“, erklärt die Superintendentin. Das reiche von hierarchischen Strukturen in der Mitarbeiterschaft bis zu räumlichen Gegebenheiten wie dunklen Ecken im Gemeindezentrum: All das könne Übergriffe begünstigen.

Dass am Donnerstag Altfälle offengelegt werden, die man hier noch nicht kenne, glaubt man im Kirchenkreis nicht. Auch die Gesamtzahl der Fälle werde erst mit der Studienveröffentlichung um 12.30 Uhr bekannt. „Für uns ist wichtig, dass hier erforscht wird, inwieweit unsere Kirche Schuld auf sich geladen hat.“

Einsatz gegen sexualisierte Gewalt

Ende 2020 hat der Verbund „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie“ (Forum) seine Arbeit aufgenommen. An diesem Donnerstag (25.1.) legt er die „Forum-Studie“ vor.

Die unabhängige Studie soll eine Grundlage für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt liefern. Sie hat die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) als Ganzes ebenso im Blick wie Landeskirchen, Kirchenkreise, Gemeinden, Dienste und Einrichtungen.

Die Evangelische Kirche versteht die Studie als „Teil unseres entschlossenen Einsatzes gegen sexualisierte Gewalt“. Sie solle helfen, Zusammenhänge besser zu verstehen und Risiken zu minimieren. Informationen auf: forum-studie.de.

In Essen stelle man sich schon länger „der Verantwortung, dass unser Kirchraum ein gefährlicher Ort sein kann“ und versuche, alle Beteiligten dafür zu sensibilisieren. Dazu gehört ein Schutzkonzept, das der 2021 gegründete Arbeitskreis „Prävention“ erstellt hat. „Ich möchte das Thema rausholen aus der Experten-Ecke und erreichen, dass sich alle Kirchenglieder damit beschäftigen“, sagt die für Prävention zuständige Silke Althaus, die als Skriba für die Aufsicht über die Kirchengemeinden verantwortlich ist. Inzwischen habe jede der 26 Essener Gemeinden einen eigenen Arbeitskreis, der das Schutzkonzept auf die örtlichen Gegebenheiten anpasst.

Mancher Ehrenamtliche fühlte sich unter Verdacht gestellt

 „Jeder muss das Recht haben, seine Grenzen zu benennen“, sagt Skriba Silke Althaus.
 „Jeder muss das Recht haben, seine Grenzen zu benennen“, sagt Skriba Silke Althaus. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Mitunter geht das nicht ohne Verwerfungen: So müssen Haupt- wie Ehrenamtliche ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. „Es gab Ehrenamtliche, die seit 20 Jahren dabei sind und das als Misstrauensvotum empfunden haben“, erzählt Silke Althaus. Hier habe man klargemacht, dass es für jeden eine Ehrensache sein sollte, „unsere Arbeit sicherer zu machen“.

Auch Kita, Kindergottesdienst und Kirchenchor könnten Tatort sein: Wo ist ein Gruppenraum schlecht einsehbar? Bereitet die Umarmung zur Begrüßung jemandem Unbehagen? Fühlt sich jemand durch anzügliche Bemerkungen bedrängt? All das sei Bestandteil von Risikoanalysen. Dabei gehe es nicht darum, die Mitarbeiterschaft unter Generalverdacht zu stellen, betont Marion Greve. „Aber jeder muss die Erkenntnis zulassen, dass er andere verletzen kann.“ Silke Althaus ergänzt: „Und jeder muss das Recht haben, seine Grenzen zu benennen.“

Wenn Minderjährige betroffen sind, wird der Fall immer zur Anzeige gebracht

Mit Postkarten macht die Evangelische Kirche auf Hilfsangebote für Betroffene von sexualisierter Gewalt aufmerksam.
Mit Postkarten macht die Evangelische Kirche auf Hilfsangebote für Betroffene von sexualisierter Gewalt aufmerksam. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Dass diese Grenzen überschritten wurden, habe mancher erst in den Schulungen erkannt, die allein im Jahr 2022 stolze 145 Hauptamtliche durchlaufen haben. Auch 250 Presbyter und Presbyterinnen habe man geschult, 135 weitere Ehrenamtliche seien im vergangenen Jahr gefolgt. Das Programm wird laufend fortgesetzt und erreicht Menschen von der Jugendarbeit bis zur Telefonseelsorge.

Neben Lisa Maas, die hauptamtlich mit der Prävention befasst ist, gibt es drei Vertrauenspersonen, die sich um Verdachtsfälle kümmern und eine Lotsenfunktion für die Betroffenen haben sollen. Bei konkreteren Fällen werde ein Interventionsteam tätig, das auch anwaltliche Beratung organisiere. „Jeder hat natürlich auch das Recht zu sagen, dass er keine Strafanzeige stellen möchte“, sagt Silke Althaus. Aber: „Jeden Fall, der Minderjährige betrifft, zeigen wir an.“

Prävention müsse zur kirchlichen DNA gehören

Bislang hat sich das Team mit fünf Fällen befasst, die Bandbreite reiche von der Anzüglichkeit bis zum Übergriff. Man nehme jeden Fall ernst, betont Greve. „Wir wollen nichts unterm Tisch halten, sondern Betroffene ermutigen, sich zu melden.“ Schon früher habe es gute Ansätze zur Prävention gegeben, „doch sie gehörte noch nicht zur kirchlichen DNA“.

Die Studie könne für den Kirchenkreis Essen eine Lesebrille sein, die womöglich unentdeckte Gefährdungsstrukturen sichtbar mache. Skriba Althaus fügt hinzu: „Bisher konnten wir uns zurücklehnen, weil es beim Missbrauch immer um die katholische Kirche ging. Jetzt geht es darum: Was haben wir nicht richtig gemacht, nicht gesehen.“

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