Essen-Steele. Unbekannte hatten Stolpersteine in Essen-Steele herausgerissen und gestohlen. Nun sind neue eingesetzt. Über 100 Menschen zeigten Solidarität.
Wo vom 9. auf den 10. November 1938 ein organisierter Mob wütete, wo am 14. November 2023 die Opfer des nationalsozialistischen Terrors erneut verhöhnt wurden, da erklangen nun Klezmer-Melodien der internationalen Band „Dobranotch“. Der Schock saß tief, nicht nur hier an der Dahlhauser Straße 20 nahe des Steeler Ostbahnhofs. An die von den Nazis verfolgte jüdische Familie Abraham, Auguste und Siegfried Kongrecki erinnernde Stolpersteine waren zerstört und gestohlen worden.
Sofort nach Bekanntwerden des Verlustes hatte der „Historische Verein für Stadt und Stift Essen“ mit der Stiftung des Künstlers Gunter Demnig Kontakt aufgenommen, der die Aktion Stolpersteine ins Leben gerufen hatte. Nur konsequent folgten jetzt die Neuverlegung der Steine und unmissverständliche Redebeiträge.
Leiterin der Alten Synagoge Essen: „Uns wurde etwas gestohlen“
Andreas Bomheuer begrüßte die weit über 100 Teilnehmer dieser ergreifenden Solidaritätsbekundung, darunter auch Vertreter der Orts- und Ratspolitik. Der Vorsitzende des Historischen Vereins stellte fest: „Man kann uns die Symbole der Erinnerung nehmen, aber nicht unser kollektives Gedächtnis.“ Der oder die Täter müssen mit äußerster Gewalt vorgegangen sein. Das Sandbett der herausgerissenen Steine wurde mit Kieseln aufgefüllt. Offenkundig sollte jedes Gedenken an die Opfer ausgelöscht werden. Doch die Stadtgesellschaft steht zusammen gegen Antisemitismus.
Die Leiterin der Alten Synagoge Essen, Diana Matut, stellte klar: „Aus diesem Haus wurden Menschen abgeholt und aus ihrem Leben geworfen.“ Die Kongreckis wurden damals entmenschlicht und auf ihr Jüdischsein reduziert. Und nun 85 Jahre später diese erschreckende Tat: „Uns wurde etwas gestohlen. Die Opfer von einst wurden um ihre Würde gebracht, aber auch wir alle und die Täter selbst. Ich schäme mich dafür, dass der Name der Stadt Essen nun mit dem Diebstahl von Stolpersteinen einhergeht.“ Man dürfe nicht aufhören, die Symbolik der gewaltsamen Zerstörung und die Symbolik des Dagegenhaltens ernst zu nehmen.
Kulturdezernent der Stadt Essen: „Traurig und verstörend, dass Juden nun wieder Angst haben müssen“
Muchtar Al Ghusain ist städtischer Beigeordneter für die Bereiche Jugend, Bildung und Kultur: „Das Entsetzen war groß, umso mehr so kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel. Niemand wollte glauben, dass hier in Essen Stolpersteine geschändet wurden. Es ist traurig und verstörend, dass Juden nun wieder Angst haben müssen. Selbst die Toten dürfen nicht zur Ruhe kommen.“ Bereits über 400 Stolpersteine seien in Essen verlegt worden: „Das Grauen begann nicht erst in den Lagern, sondern in der Nachbarschaft.“
Al Ghusain mahnte: „In Zeiten, wo auf Kanälen wie TikTok Verantwortungsloses geteilt wird, wo Rechtsradikale täglich Zulauf erfahren, wo Irregeleitete der Hamas applaudieren, wollen wir in unserer Stadt zusammenstehen.“ Andreas Bomheuer und Muchtar Al Ghusain enthüllten die drei Stolpersteine und still verneigten sich die über 100 Anwesenden vor den Toten. Anschließend berichteten Ingrid Niemann und Ludger Hülskemper-Niemann aus dem Leben der Familie Kongrecki.
Der aus Polen stammende Abraham hatte 1930 das Haus an der Dahlhauser Straße 20 erworben und dort mit seiner Frau Auguste ein Textilgeschäft eingerichtet. Ab 1933 begann die gesellschaftliche Ausgrenzung. Sohn Siegfried ging zur nur 500 Meter entfernten Schule an der Bergstraße, war dort der einzige jüdische Schüler und schlimmsten Schikanen ausgesetzt. Er hielt es nur drei Jahre aus. In der Reichspogromnacht wurden Laden, Wohnung und Warenlager zerstört. Abraham Kongrecki wurde verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert.
Bündnis plante Vortragsreihe
Für die Bezirksvertretung teilte Arnd Hepprich mit: „Wir lassen uns von niemandem und in keiner Weise vom Gedenken an diejenigen in dieser Stadt abhalten, die von den Nationalsozialisten verfolgt, entwürdigt und ermordet wurden.“
Auch das Bündnis „Mut machen - Steele bleibt bunt“ zeigte sich bestürzt. Die abscheuliche antisemitische Tat sei jedoch kein Einzelfall. 2024 solle daher eine Vortrags- und Diskussionsreihe erörtern, wie der „politische Trend nach rechts“ gestoppt werden könne. Unter www.steelebunt.de gibt’s weitere Infos.
Die Familie versuchte nun verzweifelt, ihre Ausreise zu erreichen. Nur dem Vater gelang die Flucht, Auguste und Siegfried wurden am 27. Oktober 1941 ins polnische Ghetto Łódź verschleppt. Bei Temperaturen weit unter null mussten sie mit 1000 anderen Juden in zwei vollkommen leeren Schulsälen hausen. Der noch nicht 15-jährige Sohn starb dort im Februar 1942 unter ungeklärten Umständen. Seine Mutter überlebte ihn nur um zehn Wochen.
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