Essen-Altendorf. Die Essener Firma Noweda bildet erstmalig zwei gehörlose Frauen aus. Wie organisiert sich ein Team, in dem auch Gehörlose arbeiten?
Wenn Binh-Minh Vo (22) und Sandra Jovanovic (21) morgens um sieben Uhr ihre Arbeit im Logistikzentrum der Essener Firma Noweda aufnehmen, dann begrüßen sie ihre Kolleginnen und Kollegen nicht mit Worten, sondern mit Gebärdensprache: Die beiden jungen Frauen sind gehörlos, und das schon seit ihrer Geburt. Seit dem 1. September werden sie bei dem Pharmagroßhändler Noweda im Essener Stadtteil Altendorf ausgebildet: Vo wird Fachkraft für Lagerlogistik, Jovanovic wird Fachlageristin. Damit sind sie die ersten gehörlosen Auszubildenden in dem Unternehmen.
So funktioniert Ausbildung für Gehörlose bei Essener Firma Noweda
Wie aber organisiert sich ein Team, in dem auch Menschen ohne Gehör arbeiten? Im Prinzip nicht anders als ein Team, in dem alle Mitglieder uneingeschränkt hören können, sagen die beiden jungen Frauen: Ihr Ausbildungsplan unterscheide sich nicht von dem der anderen Auszubildenden. Sonderbehandelt fühlten sich auch nicht, sagen sie. Wo es Unterschiede gebe, sei höchstens bei der Kommunikation mit Teammitgliedern oder Vorgesetzten.
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Anstatt sich über Sprache zu verständigen, schreiben Kollegen ihre Anliegen bei den beiden schlicht auf Zetteln oder auf dem Smartphone auf. Die Führungsebene kommuniziere viel über Mails mit den beiden. Und bei wirklich wichtigen Terminen, so auch beim Gespräch mit unserer Redaktion, sei stets ein Gebärden-Dolmetscher mit dabei, um die Anliegen der jungen Frauen zu vermitteln. Wenn ihre Mitmenschen ganz langsam sprechen, können die beiden Gesagtes auch von den Lippen ablesen, sagt Jovanovic.
Firma Noweda bekommt Inklusions-Zertifikat von Essener Arbeitsagentur
Vo und Jovanovic sind zwar die ersten Gehörlosen, die bei Noweda zu Logistikerinnen ausgebildet werden. Im Team der Logistik gebe es aber bereits seit einiger Zeit einen anderen gehörlosen Arbeitnehmer, mit dem das Unternehmen gute Erfahrungen gemacht habe, sagt Noweda-Niederlassungsleiter Marc Heinemann. Der Niederlassungsleiter spricht sich für Inklusion aus: Es sei gar „einfach“, die beiden zu integrieren. Laut Noweda-Personalchefin Linda Peuckmann würde sogar oft explizit nach den beiden gefragt, wenn es um spezielle Aufträge gehe.
Die Essener Arbeitsagentur hat der Firma Noweda für die Einstellung der beiden jungen Frauen nun ein Inklusions-Zertifikat übergeben. Agentur-Geschäftsführer Hasan Klauser hofft, dass weitere Unternehmen wie Noweda handeln. Denn die Zahl der Arbeitslosen steigt bei Menschen mit Behinderung seit dem vergangenen Jahr wieder an: Während im Jahr 2022 in Essen 1576 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet waren, waren es im Oktober 2023 insgesamt 1618 Menschen. Das liegt unter anderem daran, dass viele Unternehmen ihrer gesetzlichen Pflicht nicht nachkommen und genügend Menschen mit Handicap einstellen und lieber eine Ausgleichsabgabe zahlen – sich also freikaufen.
Ausbildung zur Logistikerin: Binh-Minh Vo arbeitet am liebsten im Wareneingang
So sind Arbeitgeber mit 20 und mehr Arbeitsplätzen gesetzlich dazu verpflichtet, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Dafür gibt es je nach Betriebsgröße Quoten: Arbeitgeber mit 20 bis unter 40 Beschäftigten müssen mindestens einen Schwerbehinderten und Arbeitgeber mit 40 bis unter 60 Arbeitsplätzen müssen zwei schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Arbeitgeber mit 60 und mehr Arbeitsplätzen müssen mindestens 5 Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen.
Unternehmen, die die Quote nicht erreichen, müssen monatlich eine sogenannte Ausgleichsabgabe zahlen. Sie beträgt je nach Beschäftigungsmodell zwischen 140 und 360 Euro pro unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. Die Zahlen der Arbeitsagentur zeigen, dass rund 55 Prozent der Essener Unternehmen im Jahr 2021 lieber zahlten, statt ihre Quote zu erfüllen. Das Unternehmen Noweda erfüllt die Quote aktuell nicht ganz. Nur rund 88 Prozent der gesetzlich vorgeschriebenen Stellen sind im Dezember 2023 mit Schwerbehinderten besetzt – laut Dr. Joachim Reinken, Leiter der Unternehmenskommunikation bei Noweda, sei man hiermit „auf einem guten Weg“, wolle aber langfristig nicht nur die gesetzlichen Vorgaben erfüllen, sondern auch der „eigenen sozialen Verantwortung“ gerecht werden.
Noweda dagegen profitiert auch von der Ausbildung der beiden behinderten jungen Frauen: Denn es sei aktuell grundsätzlich schwer, gute Azubis zu finden. Und auch Binh-Minh Vo und Sandra Jovanovic sind froh über die berufliche Chance: Obwohl die Eingewöhnungsphase durchaus schwierig gewesen sei, hätten sie sich inzwischen gut eingelebt und großen Spaß an ihrer Arbeit gefunden. Vo, die in Hamburg ihren Realschulabschluss gemacht und anschließend auf dem Essener Berufskolleg für Gehörlose ihr Fachabitur erworben hat, sei über Umwege bei Noweda gelandet. Nach dem Abi wollte sie zunächst Fotografin werden, doch das klappte nicht, erzählt sie. Bei einem Praktikum in der Logistik bei einem Düsseldorfer Unternehmen habe sie gemerkt, dass sie ein Organisationstalent habe.
Warum der Wareneingang Binh-Minhs Vo Lieblingsstation in der Ausbildung ist
Ihre Lieblingsausbildungsstation bei Noweda sei der Wareneingang. Hier ist sie dafür zuständig, die täglich rund 300 eintreffenden Paletten mit Paketen voller Medikamente zu überprüfen, zu scannen und zu sortieren, damit sie anschließend ins Lager gebracht werden. Dabei falle auch viel Arbeit am Computer an, die Vo besonders großen Spaß mache. Vos Eltern, die beide nicht gehörlos sind und bis heute in Hamburg wohnen, hätten zunächst skeptisch auf die Wahl ihrer Ausbildung geschaut – ihnen schwebte für ihre Tochter ein Beruf im sozialen Bereich vor. Inzwischen würden sie ihre Tochter aber uneingeschränkt bei ihrem Werdegang unterstützen. Wenn die Ausbildung geschafft ist, hofft die 22-Jährige, die mit ihrem Partner in Essen wohnt, bei Noweda langfristig übernommen zu werden.
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