Essen. Vor der jüdischen Hirschland-Bank aus Essen zeigten selbst die Nazis Respekt. Doch da gab es noch die „krankhafte Meschuggah“ einer der Inhaber.
Der Kapitalbedarf der Stahlindustrie und des Bergbaus war Anfang des 20. Jahrhunderts enorm. Und egal ob Krupp, Thyssen, Henschel oder Mannesmann: Die Wirtschaftsmagnaten wickelten ihre Geschäfte vor allem über eine Bank ab – die Simon-Hirschland-Bank in Essen. Das 1841 von dem gleichnamigen jüdischen Bankier gegründete Geldinstitut hatte sich zu einer der größten Privatbanken Deutschlands entwickelt. Bis heute blieb die Fassade des repräsentativen Bankhauses am „Hirschlandplatz“ erhalten, aber die wenigsten wissen von den großen Verdiensten dieser Bankiersfamilie für Essen – und von den privaten Krisen der Brüder Kurt und Georg Hirschland. Dabei spielte die „krankhafte Meschuggah“ von Kurt eine große Rolle.
Der Essener Historiker Norbert Fabisch stieß vor einigen Jahren auf die Reste der Villa Franzenshöhe in Werden (heute: Gelände des Kardinal-Hengsbach-Hauses). Die Villa war ab 1924 Wohnsitz der Hirschlands, ein Anwesen, das als eine kleine Ausgabe der Villa Hügel gelten konnte. Damit begann Fabischs intensive Forschung über die jüdische Bankiersfamilie, die jetzt in seinem Buch nachzulesen ist. Welche überraschenden Ergebnisse er zutage gefördert hat, darüber sprach der Autor mit unserer Redaktion.
Herr Fabisch, im Jahr 2020 haben Sie erstmals in einem Vortrag über das Leben und Wirken der Hirschlands berichtet. Warum ist gerade diese Familie so interessant?
Die Hirschlands haben in Essen viele Spuren hinterlassen. Ohne das Zutun von Simons Sohn Isaac Hirschland, bekannt als der „Bänker von Essen“, wäre etwa die Alte Synagoge nicht so ein imposantes Gebäude geworden. Besondere Verdienste hat sich die nächste Generation um die Gründung und Förderung des Museums Folkwang erworben. Dort gibt es heute auch den „Hirschland-Saal“. Die Familie war ein hoch angesehenes Element der Stadtgesellschaft, man empfing Gäste aus Politik und Gesellschaft in der Villa, engagierte sich aber auch sozial.
Aber es gab auch Antisemitismus. Wie wurde der wahrgenommen?
Isaac Hirschland setzte auf Aufklärung und Vernunft. Den Antisemitismus hielt er für eine auslaufende Erscheinung von Ewiggestrigen. Die Tochter Agathe und die Söhne Georg und Kurt sowie Franz, der früh nach Amerika auswanderte, erlebten das als Heranwachsende schon anders. Auch im bürgerlichen Burggymnasium hörten sie Spottgedichte auf Juden. 1916 hieß es, die Juden drückten sich vor dem Militärdienst. Dabei ergab eine Zählung, dass sie überproportional in der deutschen Armee vertreten waren. Immer offener zeigte sich antisemitische Propaganda in der Weimarer Republik.
Und dann kamen die Nazis...
Georg Hirschland war nach der Machtübertragung 1933 einer der Mitgründer der Reichsvertretung der deutschen Juden, um der staatlich organisierten Ausgrenzung der Juden ein geschlossenes Auftreten entgegenzusetzen. Die Familie baute vor und nach ihrer eigenen Vertreibung ein gut funktionierendes Hilfswerk auf, um möglichst viele Juden aus Deutschland zu retten.
Welche Quellen haben Sie genutzt? Gibt es noch Hirschland-Nachkommen, die weiterhelfen konnten?
Nach einigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen hauptsächlich zur Arisierung der Bank und zur Geschichte der außergewöhnlichen Kunstsammlung der Hirschlands blieb es still um die Familiengeschichte. Ein Glücksfall war, dass das New Yorker Leo Baeck Institute rund 16.000 Seiten des schriftlichen Familiennachlasses digitalisiert hatte. Briefe, Dokumente und Fotos von vier Generationen dokumentieren den Aufstieg, das beeindruckende Kunstinteresse und den großbürgerlichen Lebensstil. Beklemmend sind alle Zeugnisse, die zeigen, wie das Lebenswerk dieser ungewöhnlich sozial eingestellten Stifter und Mäzene nach 1933 zertreten wurde. In der Bank traten die Probleme rund um die Ausreise jüdischer Kunden und Freunde immer mehr in den Mittelpunkt. Heldenhaft arbeitete die jüdische Chefsekretärin Hanni Silbermann in ihrem Büro bis kurz vor Kriegsbeginn in der Auswanderungshilfe.
Apropos Kurt Hirschland. Ihm widmen Sie ein Kapitel, das „Absturz“ betitelt ist. Warum?
Während Georg sich als Jurist um die solide Absicherung der Geschäfte kümmerte, war Kurt Hirschland ein genialer Netzwerker und unablässig aktiv. Er war sicher auf dem gesellschaftlichen Parkett, sprach fließend mehrere Sprachen und steigerte die Gewinne. Als die Zeche Ewald wegen seiner riskanten Empfehlungen zu großen Investitionen fast in den Bankrott ging, kam die Hirschland-Bank ins Gerede.
Was passierte dann?
Kurt erlitt einen Nervenzusammenbruch und schied im Juli 1934 ganz aus der Geschäftsführung aus. Mit Unterbrechungen hielt er sich für über 15 Jahre in Schweizer Kliniken auf. Sein Zustand war schwankend, mal analysierte er klar die Sachlage, mal war er wirr und depressiv. Es gibt Kassiber, kleine Papierfetzen, auf denen er aus der Klinik Botschaften nach draußen schmuggelte. Er behauptete darin, verschleppt worden zu sein. Zahlreiche Briefe belegen, dass die Familie trotz allem in dieser Krise zusammenhielt.
Aber eine viel größere Gefahr war das NS-Regime. Wie erging es den Hirschlands?
Im Gegensatz zu allen anderen deutschen Juden konnten die Hirschlands mit den NS-Behörden über die Bedingungen ihre Ausreise verhandeln. Sie bürgten noch für amerikanische Kredite, die die Nazis nicht gefährden wollten und der Essener Gauleiter Terboven wollte sich mit den Hirschland Gemälden, darunter drei van Goghs, im Folkwang Museum ein Denkmal setzen. Wenige Tage vor dem Novemberpogrom 1939 schrieb der Essener Polizeipräsident der Familie sogar, sie dürfe „jederzeit in das deutsche Reichsgebiet zurückkehren“. Vermutlich erhielt keine andere jüdische Familie eine vergleichbare Bescheinigung. Aber zurückgekehrt ist keiner.
Vorträge und Führungen zum Buch
Die erste Vorstellung des Buches findet am Donnerstag, 5. Oktober, um 19.30 Uhr unter dem Titel „Kurt und Georg Hirschland. Essener Privatbankiers vor der nationalsozialistischen Herausforderung“ im Bürgermeisterhaus Werden, Heckstraße 105, statt. Eintritt: fünf Euro. Weitere Infos: www.buergermeisterhaus.de.
Außerdem stellt der Autor seine Forschungen im Haus der Essener Geschichte (Stadtarchiv, Ernst-Schmidt-Platz 1) vor: am Donnerstag, 12. Oktober. Die Veranstaltung „Die Hirschlands – Aufstieg und Vertreibung einer jüdischen Bankiersfamilie aus Essen“ beginnt um 18 Uhr. Weitere Infos: www.hv-essen.de.
Eine Führung zur ehemaligen Villa Franzenshöhe in Werden gibt es am Samstag, 28. Oktober. Start ist um 14 Uhr am Kutschenhaus/Franzenshöhe. Buchung: 0163 821 1297 oder rolfwerden55@gmail.com.
Was ist mit den Nachfahren?
In New York gründete der Rabbiner Hugo Hahn zusammen mit den Hirschlands die Gemeinde Habonim, die eine neue Heimat für einige Essener Juden wurde. Heinz Hirschland, Georgs Sohn, besuchte später als amerikanischer Soldat die Villa Franzenshöhe, in der er seine Kindheit verbracht hatte. Nach der Rückerstattung wurde das Anwesen 1958 an das neu gegründete Bistum Essen verkauft. Die Villa Franzenshöhe wurde 1964 abgerissen. 2022 hatte ich Gelegenheit, die Nachfahren von Kurt Hirschland persönlich kennenzulernen. Sie besuchten u.a. das Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof Segeroth. Ihr Interesse an der eigenen Geschichte ist nach wie vor sehr groß.
Das Teehaus und die Gartenanlage der Villa Franzenshöhe stehen inzwischen auch dank Ihrer Forschung unter Denkmalschutz. Was wünschen Sie sich noch?
Es würde mich sehr freuen, wenn der Hirschland-Park mit Teehaus und Japanischem Garten wieder belebt wird und eine adäquate Nutzung findet. Für Essener Schüler könnte hier ein Lernort entstehen, der von dieser außergewöhnlichen Familiengeschichte erzählt.
Das Buch „Die Hirschlands. Aufstieg und Vertreibung einer jüdischen Bankiersfamilie“ von Norbert Fabisch ist als Hardcover (232 Seiten, 99 Abbildungen) im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen. Es kostet 28 Euro (ISBN 978-3-95565-608-9).
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