Essen. Symbolthema Rüttenscheider Straße: Die Grünen setzen die CDU unter Druck, den Autoverkehr zurückzudrängen. Betroffene fürchten um ihre Existenz.

Verkehrsführung auf der Rüttenscheider Straße – nichts Vergleichbares hat in den letzten Jahren verkehrspolitisch die Wogen so hochkochen lassen wie die Bevorzugung des Radverkehrs auf Essens beliebtester Einkaufs- und Gastronomiestraße. Zuletzt war es einige Zeit ruhiger, doch in diesen Tagen ist der Konflikt zwischen den Ratsfraktionen von CDU und Grünen um das weitere Vorgehen eskaliert. Selbst ein möglicher Bruch der bislang meist geräuschlos funktionierenden Ratskoalition beider Parteien soll dem Vernehmen nach als Drohung der Grünen im Raum stehen.

Im Mittelpunkt steht dabei die altbekannte Forderung der Fahrradverbände, das Durchfahren der langen Nord-Süd-Straße für Autos an mehreren Stellen mit Sperren und Einbahnstraßenregelungen zu unterbinden. Die Grünen unterstützen das, die CDU ist skeptisch bis ablehnend. Inhaltlich zitieren lassen will sich niemand aus den beiden Parteien, aber eine Lösung ist trotz intensiver Gespräche noch nicht gefunden. Ein Kompromiss, der das Thema Sperrung ausklammert, wäre für die Grünen wohl eine Niederlage. Basis der Pläne ist ein Gutachten, das verschiedene Sperrungsszenarien aufzeigt und über das laut Grünen-Ratsherr Stephan Neumann am Freitag (29. 9.) mit den Verkehrspolitikern aller Ratsfraktionen erneut debattiert werden soll.

Beide Parteien stehen unter starkem Druck von Interessengruppen und Bürgern

Die Fahrradstraße funktioniere an vielen Stunden des Tages durchaus, sagt die Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR). Allerdings habe ihre Einrichtung uneinlösbare Erwartungen geweckt.
Die Fahrradstraße funktioniere an vielen Stunden des Tages durchaus, sagt die Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR). Allerdings habe ihre Einrichtung uneinlösbare Erwartungen geweckt. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

SPD und Linke hatten bei früherer Gelegenheit bereits betont, dass sie das Zurückdrängen des Autoverkehrs auf der Rü ebenfalls begrüßen, FDP und AfD stehen jeweils der CDU-Position nahe und wollen alles lassen, wie es ist. Entscheiden aber müssen CDU und Grüne, ihre „Gestaltungskoalition“ hat im Stadtrat die Mehrheit.

Beide Parteien stehen dabei unter starkem Druck durch ihnen nahestehende Interessengruppen, aber auch durch ganz normale Stadtteilbürger und ihr Bedürfnis, möglichst störungsarm von A nach B zu kommen – sei es mit dem Auto, mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Besonders die Grünen haben die Zukunft der „Rü“ zum Symbolthema erkoren, weshalb ein Akteur der lokalpolitischen Szene davon ausgeht, dass sie sich um fast jeden Preis zumindest teilweise durchsetzen müssen, wollen sie nicht vor ihrer Klientel als zahnlose Tiger dastehen: „Die CDU wird in der Abwägung lieber gefährlichen Unsinn für Rüttenscheid beschließen als die Ratskoalition zu riskieren.“

Der Konflikt hat eine Vorgeschichte, die im Sommer 2020 ihren Anfang nahm, als die „Rü“ zur Fahrradstraße erklärt wurde. Schon damals forderten die Fahrradverbände, die Grünen, die SPD, aber auch die den Grünen angehörende Verkehrsdezernentin Simone Raskob vehement, die Rüttenscheider Straße für Autofahrer mittels Sperrungen noch unattraktiver zu machen als es durch die Fahrradstraßen-Regelung bereits beschlossen war. Nicht zuletzt auf Intervention von OB Thomas Kufen hat die Stadt dann auf diese Maßnahmen verzichtet – allerdings nur vorläufig.

Der Grund für das damalige Zögern: Die weitaus meisten Rüttenscheider Geschäftsleute und Gastronomen, die einflussreiche Bürgervereinigung Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR) sowie der Bürger- und Verkehrsverein Rüttenscheid (BVR) meldeten starke Bedenken gegen das Kappen des Autoverkehrs an. Auch unter denjenigen Stadtteilbürgern, die nicht zum eingefleischten Radfahrerlager gehören, war und ist das Vorhaben mindestens umstritten. Die Rüttenscheider Straße als Kern des Stadtteils funktioniere hervorragend, so wie sie ist, lautete das Hauptargument. Motto: „Never change a running system“ – ändere nichts, was gut klappt.

Die „Fahrradstraße“ weckte Erwartungen, die Experten hier für unerfüllbar halten

Anlieferung an einem Montagmorgen: Vier Lkws blockieren die Rü, was dann zu Problemen führt – für Auto- und Radfahrer gleichermaßen. Eine Extremsituation, die aber eben vorkommt.
Anlieferung an einem Montagmorgen: Vier Lkws blockieren die Rü, was dann zu Problemen führt – für Auto- und Radfahrer gleichermaßen. Eine Extremsituation, die aber eben vorkommt. © WAZ | Stenglein, Frank

Wer die gewohnten Wege und die Erreichbarkeit der Geschäfte und Restaurants radikal beschneide, riskiere einen Niedergang, wie ihn andere Essener Stadtteilzentren und auch die Innenstadt bereits hinter sich haben, hieß es damals und auch heute. Unnötig belastet würden zudem die ruhigeren Nebenstraßen, auf die wegen der künstlich geschaffenen abbiege Zwänge dann mehr Autoverkehr zukäme. Zudem gebe es bundesweit eine wachsende Zahl an Beispielen, wie Anti-Auto-Politik Geschäftsstraßen zerstöre. Die CDU schloss sich damals an: keine sogenannten „modalen Sperren“, wie die Maßnahme im Verkehrsplaner-Jargon heißt.

Die Fahrrad-Lobby klagt über die schlecht funktionierende Bevorzugung

Auf der anderen Seite steht die Fahrrad-Lobby, die nicht zu Unrecht klagt, dass die Rüttenscheider Straße als Fahrradstraße nicht gut funktioniert. Neben den Autofahrern kommen auch die Fahrradfahrer zu den Stoßzeiten nicht so schnell voran, wie es vor allem die Intensivfahrer unter ihnen gern hätten. Der Anlieferverkehr für die Geschäfte, aber auch die für Einkaufsstraßen typisch hohe Frequentierung mit allen möglichen Verkehrsteilnehmern verhindern jenes weitgehend ungehinderte Durchpreschen, wie es der Name, aber auch der Grundgedanke einer „Fahrradstraße“ eigentlich verheißt.

Vom ersten Tag an, hat sich somit bestätigt, was Experten vorhergesagt hatten: Die Rü eignet sich nicht als Straße, bei der eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern besondere Rechte erhält. Gerade ihre Beliebtheit und Bedeutung als zentrale und belebte Straße eines überaus beliebten Stadtteils erzwingt mehr noch als sonst gegenseitige Rücksichtnahme. Auch der Verkehrsgutachter Peter Gwiasda erklärte im Frühjahr 2023 bei einem Bürgerforum des „Radentscheids Essen“, die Ernennung einer Einkaufsstraße zur Fahrradstraße wecke uneinlösbare Erwartungen: „Man soll nie eine Geschäftsstraße zur Fahrradstraße machen.“ So sieht es auch die IGR.

Doch trotz der Bedenken und nicht zuletzt auch auf Forderung der Deutschen Umwelthilfe wurde die Fahrradstraße Rü eingerichtet. Dank eines gerichtlichen Vergleichs, auf den sich Kufen anlässlich eines erstinstanzlichen Urteils wegen zu hoher Schadstoffwerte einließ, redet der am Bodensee beheimatete Verein in der Essener Verkehrspolitik bis in die Details ein wichtiges Wort mit. Regelmäßig erreichen die Stadtverwaltung, diesbezüglich Schreiben, die im gebieterischen Ton Vollzug von Forderungen anmahnen.

Umwelthilfe stellte Stadt Essen jüngst auch wegen der „Rü“-Politik in den Senkel

Und Zufall oder nicht: Pünktlich zu den neuen Gesprächen über die „modalen Sperren“ stellte die Umwelthilfe vor einigen Wochen die Stadt Essen in einer langen Pressemitteilung mit Wucht in den Senkel. Festzustellen sei schlichtweg verkehrs- und umweltpolitisches Nichtstun, wobei als besonders negatives Beispiel die Rüttenscheider Straße und das „vollkommen unverständliche“ Verweigern von Sperren für Autos genannt wurde. Auch eine Petition des Radentscheids forderte jüngst erneut die Sperren.

Mobil macht aber auch die Gegenseite, die Existenzangst bekommt. Nachdem sich die Einzelhändler bereits vor geraumer Zeit gemeldet hatten, erhielt OB Kufen vergangene Woche ein Protestschreiben, das nahezu alle Gastronomen auf der Rüttenscheider Straße unterzeichneten. „Wir bitten Politik und Verwaltung, keine weitere Einschränkung der Erreichbarkeit, etwa durch Sperren auf der Rü, vorzunehmen“, heißt es darin als Fazit.

IGR fordert Beteiligung aller Betroffenen, bevor Entscheidungen fallen

Man habe durchaus nichts gegen die Fahrradstraße wie sie jetzt existiere und auch nichts gegen Verbesserungen wie die bisher ausgebliebene Optimierung des störenden Anlieferverkehrs. Ansonsten aber bleibe es dabei: Die Attraktivität der Rü liege vor allem darin, dass sie belebt ist und für alle gut erreichbar. „Wir haben zum Thema viele Vorschläge gemacht, ich erwarte, dass die Ansichten der Betroffenen vor den anstehenden Entscheidungen wie versprochen berücksichtigt werden“, sagte Rolf Krane, Vorsitzender der Interessengemeinschaft Rüttenscheid.

Die Lage scheint verfahren, und vor allem die CDU hat sich in eine schwierige Situation manövriert. Man darf gespannt sein, wie sie da wieder herauskommt.