Essen. Der Gründer des Bistums Essen, Kardinal Hengsbach, soll vor Jahrzehnten junge Frauen sexuell missbraucht haben. Durchs Bistum geht ein Beben.
Überlebensgroß steht er auf der Kirchenmauer am Essener Dom und schaut auf die Seinen herab: Vor zwölf Jahren haben sie Franz Kardinal Hengsbach hier unter dem Blätterdach einer großen Platane ein Denkmal errichtet, ein schon damals umstrittenes Kunstwerk aus Hartkeramik, mit einem Wolf und einem Lamm zu seinen Füßen. Die Skulptur soll liebevoll an den ersten Bischof von Essen erinnern, den viele als guten Hirten in Erinnerung haben. Doch wenn stimmt, was jetzt als Vorwurf im Raum steht, ist das beileibe nicht die ganze Wahrheit: Es gibt gravierende Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen den Gründerbischof des Bistums Essen.
Gravierend und offenbar so glaubwürdig bezeugt, dass sie Hengsbachs aktuellen Nachfolger im Amte bewogen, die Anschuldigungen am Dienstag öffentlich zu machen. Ein Wagnis und mehr noch als das: Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck ermutigte dabei ausdrücklich mögliche weitere Betroffene, sich zu melden: „Sollten Sie selbst sexualisierte Gewalt durch Kardinal Hengsbach erlitten haben, dann wenden Sie sich bitte an die beauftragten Ansprechpersonen im Bistum Essen“, formulierte Overbeck in einer Mitteilung an die Medien: „Das Gleiche gilt auch, wenn Ihnen Hinweise bekannt sind, die für die weitere Aufarbeitung hilfreich sein können.“
Kardinal Hengsbach unter Verdacht: „Mir ist sehr bewusst, was diese Entscheidung (...) bei vielen Menschen auslösen wird“
Missbrauchsfälle aller Art sind längst keine Seltenheit mehr in kirchlichen Kreisen. Aber dass ausgerechnet der fromme Glaubenshüter und charismatische Kirchenmann Hengsbach als Wolf unter den ihm anbefohlenen Schäfchen gewirkt haben soll – das rührt an den Grundfesten selbst jener Gläubigen, die der katholischen Kirche allen bitteren Enthüllungen zum Trotz die Treue hielten.
Sie helfen Missbrauchsopfern im Bistum Essen
Was tun, wenn jemand Missbrauch durch haupt- oder ehrenamtlich Tätige des Bistums Essen erlitten hat oder noch erleidet? Um den Betroffenen sexualisierter Gewalt die Kontaktaufnahme zu erleichtern, hat Bischof Franz-Josef Overbeck im Jahr 2021 ehrenamtliche Ansprechpersonen beauftragt.
Es sind dies Monika Bormann, Mobil: 0151-16 47 64 11, Mail: monika.bormann@bistum-essen.de; Mechtild Hohage, Mobil: 0151-57 15 00 84; Mail: mechtild.hohage@bistum-essen.de und Martin Oppermann, Mobil: 0160-93 09 66 34, Mail: martin.oppermann@bistum-essen.de
Wer von sexualisierter Gewalt in einer katholischen Einrichtung oder durch Mitarbeitende der Kirche betroffen ist, kann sich direkt an diese drei Personen wenden. Sie sind von jeder Weisung unabhängig.
Overbeck weiß das nur zu gut: „Mir ist dabei sehr bewusst, was diese Entscheidung (...) bei vielen Menschen auslösen wird, die Kardinal Hengsbach als geschätzten Gründerbischof unseres Ruhrbistums in Erinnerung haben“, erklärte der Bischof zur Causa Hengsbach. Die Entscheidung, in die Offensive zu gehen, habe er aber „nach gründlicher Abwägung der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse getroffen“.
Die erhobenen Vorwürfe gegen Kardinal Hengsbach? Anfangs galten sie „im Ergebnis als nicht plausibel“
Was diese Entscheidung nicht leichter gemacht haben dürfte: Bei den Missbrauchs-Vorwürfen, die nun im Raum stehen, handelt es sich um Vorgänge, die bereits ein halbes Jahrhundert und mehr zurückliegen. Ein Vorwurf betrifft dabei Hengsbachs Zeit in Paderborn, wo er von 1948 bis 1958 das Erzbischöfliche Seelsorgeamt leitete und 1953 zum Weihbischof geweiht wurde. 1954 sollen der damals 44-Jährige und sein 27-jähriger Bruder Paul Hengsbach, ebenfalls Diözesanpriester des Erzbistums Paderborn, eine 16-jährige sexuell missbraucht haben.
Als die Frau sich 2011 ein Herz fasste und mit den Beschuldigungen an die Paderborner Kirchenleitung wandte, war Franz Hengsbach allerdings bereits 20 Jahre tot. Sein Bruder Paul bestritt bei einer Befragung im Erzbischöflichen Generalvikariat im Juli 2011 vehement, was ihm da vorgehalten wurde. Die Vorwürfe, so heißt es in einer Mitteilung des dortigen Erzbistums, „wurden aufgrund der Gesamtumstände im Ergebnis als nicht plausibel bewertet“. Für eine weitergehende Prüfung übergab man den Fall an die Kongregation für die Glaubenslehre in Rom, einer unter anderem für solche Fragen zuständigen Zentralbehörde der römischen Kurie. Und die entschied, „angesichts des zur mutmaßlichen Tatzeit geltenden Strafrechts kein Strafverfahren einzuleiten“.
Kardinal Hengsbach unter Verdacht: Rom hatte entschieden – und in Essen wähnte sich der Bischof auf der sicheren Seite
Alles okay also? „Aus heutiger Perspektive und nach erneuter Prüfung des Personalaktenbestands von Paul Hengsbach“, so heißt es in diesen Tagen kleinlaut aus Paderborn, „muss die damalige Plausibilitätsbeurteilung leider deutlich in Frage gestellt werden“. Dies zumal es einen weiteren, ähnlich gelagerten Vorwurf gab.
In Essen wähnte man sich derweil auf der sicheren Seite: Ruhrbischof Overbeck, damals seit zwei Jahren im Amt, sah nach eigenem Bekunden den Vorgang nach Aktenlage als bearbeitet an – „zumal mir mündlich mitgeteilt worden war, dass die Glaubenskongregation den Vorwurf als nicht plausibel bewertet hatte“. „Roma locuta causa finita“, diese sprichwörtliche Redewendung ist schließlich dem Kirchenrecht entlehnt: „Rom hat entschieden, die Sache ist erledigt.“
Von wegen. Es gab zwar einen weiteren Fall mit Vorwürfen gegen Franz Hengsbach, der ebenfalls im Sande verlief, weil das mutmaßliche Opfer dem Vernehmen nach drei Jahre lang Hilfsangebote aller Art ignorierte. Und seine Anschuldigungen aus eigenem Antrieb später via Anwalt zurücknahm.
Kardinal Hengsbach unter Verdacht: Eine neue Aussage und das Gefühl, Rom könnte mit seiner Haltung doch falsch liegen
Doch dann war da diese Frau, die sich im Oktober vergangenen Jahres bei einer der Kontaktpersonen des Bistums für Fälle sexualisierter Gewalt meldete. Dort gab sie zu Protokoll, es habe im Jahr 1967 – sie war damals unter 18 Jahre – einen sexuellen Übergriff durch den damals 57-jährigen Franz Hengsbach gegeben. Es ist diese erneute Anschuldigung, die in Essen offenbar den Eindruck verstärkte, Rom könnte mit seiner abwehrenden Haltung vielleicht doch falsch gelegen haben. Und dass was dran sein muss an den dunklen Schatten, die angesichts der Vorwürfe auf die Lichtgestalt des späteren Kardinals fallen.
Dass das Bistum Essen diesen Fall nicht schon im Februar öffentlich machte, als mit großem Bahnhof eine Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im präsentiert wurde, diesen Umstand erklärt man mit dem schlichten Hinweis darauf, das Aussage-Protokoll des mutmaßlichen Opfers habe erst im März unterschrieben vorgelegen. Erst danach sieht die Verfahrensordnung vor, den Bischof in Kenntnis zu setzen. Bischof Franz-Josef Overbeck, so heißt es entschuldigend, war mithin im Februar also noch ahnungslos.
Wie umgehen mit dem Mythos Hengsbach, dem Denkmal, den Vorwürfen?
Und reagierte prompt, als er von dem Fall erfuhr. Overbeck bat das Erzbistum Paderborn, von wo Hengsbach nach Essen gekommen war, nachzuforschen, ob im dortigen Aktenbestand womöglich weitere Meldungen über den ersten Bischof von Essen aktenkundig seien – und fanden den Verdacht durch verschiedene Puzzleteile bestätigt. Details gibt man nicht preis, die Betroffenen bleiben anonym, die konkreten Beschuldigungen hinter der Chiffre „sexueller Missbrauch“, aber man weiß augenscheinlich mehr, als preisgegeben wird: „Wir sind ganz sicher nicht leichtfertig an die Veröffentlichung gegangen.“
Und nun?
Nun fragen sie sich im Bistum und fortan vermutlich weit darüber hinaus, wie sie mit dem Mythos Hengsbach umgehen sollen, mit einem, der zur Identifikationsfigur des Ruhrgebiets wurde, der das Bischöfliche Hilfswerk Adveniat gründete, der stets an das soziale Gewissen der Marktwirtschaft appellierte, und durch seine kumpelige Art mit dem Kohlestück statt eines Edelsteins im Bischofsring Sympathien auch abseits der Kirche genoss. Einer der aber auch stockkonservativ und knallhart sein konnte, Machtmensch, wenn es sein musste. Wolf unter Lämmern?
Kardinal Hengsbach unter Verdacht: Die ersten fragen sich schon, ob das Denkmal am Domplatz da noch richtig steht
So 100-prozentig wird das niemand mehr beantworten können. Es stehen Aussagen im Raum, kein gerichtsfestes Urteil. Aber im Bistum halten sie die Anschuldigungen erkennbar für glaubhaft, und sie würden umso glaubhafter, gäbe es mehr mutmaßliche Opfer. Auch darum der ausdrückliche Aufruf, sich zu melden, ein einmaliger Vorgang bei einem Kleriker dieses Ranges.
Schon werfen manche die Frage auf, ob sie der Vita des ersten Bischofs wenigstens in Teilen ein düsteres Kapitel anfügen müssen, ob das Denkmal, das sie ihm einst auf dem Domplatz setzten, dort jetzt noch richtig steht. Er überlebensgroß auf der Mauer. Und unten die Menschen, die bewundernd zu ihm aufschauen.
Oder auch nicht mehr.