Essen. Eins der vier Kinder, die in den vergangenen Wochen aus Fenstern in Essen gefallen sind, ist tot. Ein Mädchen (4) schwebt noch in Lebensgefahr.

Einer der vier Fensterstürze von Kindern binnen weniger Wochen in Essen hatte tödliche Folgen: Der einjährige Junge, der am 20. Juni aus einem Flurfenster zwischen dem zweiten und dritten Obergeschoss an der Max-Reger-Straße im Südviertel in die Tiefe gefallen war, erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus.

Das Mädchen, das am selben Tag nur wenige Stunden später aus einem Dachgeschoss an der Vogelheimer Straße rund zwölf Meter in die Tiefe gestürzt ist, wird weiterhin in einer Klinik behandelt. Es besteht nach wie vor „potenziell Lebensgefahr“, sagte Polizeisprecher René Bäuml auf Anfrage dieser Zeitung. Es gebe in beiden Fällen keine Hinweise auf ein Fremdverschulden. Die Ermittler gehen von Unfällen aus.

Gleiches gilt nach Einschätzung der Polizei für die beiden Fensterstürze am 6. und 8. Juni, bei denen ein dreijähriges Mädchen in Holsterhausen und ein eineinhalbjähriges Kleinkind in Kray verunglückten. Beide erlitten bei den Stürzen aus dem ersten beziehungsweise zweiten Stockwerk nach ersten Einschätzungen weniger schwere Verletzungen.

Die Eltern haben nichts bemerkt

„In allen vier Fällen haben sich die Kinder ohne, dass es die Eltern bemerkt haben, an ein geöffnetes Fenster begeben und sind dort hinausgestürzt“, sagte Stadtsprecherin Silke Lenz, nachdem die Sozialen Dienste des Jugendamts die betroffenen Familien aufgesucht hatten, um sich ein Bild von den Umständen zu machen. Auch um zu erfahren, ob es Hilfen, vielleicht seelsorgerischen Beistand braucht, ob es womöglich Erklärungsmuster für die auffällige Häufung der Fälle gibt und welche Maßnahmen sinnvoll sein könnten, um weiteren Unglücke vorzubeugen.

Hat sich womöglich etwas an der Aufmerksamkeit von Eltern gegenüber ihren Kindern geändert? Diese Frage, heißt es seitens der Behörden, ließe sich pauschal nicht beantworten, jedenfalls nicht auf Grundlage der bedauerlichen aktuellen Geschehnisse. Ein erstes Fazit lautet: „Wir gehen davon aus, dass es sich um ein unglückliches Zusammentreffen mehrerer Fälle handelt“, so Lenz.

Dass im Frühjahr und Sommer besonders junge Menschen auf diese Weise verunglücken, ist für die Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder e.V.“ allerdings ein bekanntes Phänomen mit manchmal leider auch tödlichen Folgen. „In der Mehrzahl sind Kleinkinder unter vier Jahren betroffen“, weiß Andreas Kalbitz, Geschäftsführer der BAG. Das hat Gründe.

Der Blick nach draußen fasziniert

„Fenster und Balkone stellen eine große Gefahrenquelle im Haus dar und finden häufig zu wenig Beachtung“, warnt Hanna Busch, Leiterin des Jugendpsychologischen Instituts (JPI) der Stadt Essen. Der Blick nach draußen durch Fenster und Balkone strahle für kleine Kinder eine besondere Faszination aus, so die Psychotherapeutin. Dabei unterschätzen Eltern häufig die motorischen Fähigkeiten ihrer Sprösslinge, die sich recht sprunghaft entwickeln können, und überschätzen gleichzeitig das Gefahrenbewusstsein der Kleinen.

Denn das stellt sich meist in einem Alter ab vier Jahren ein und entwickelt sich eher langsam. Erst mit neun bis zehn Jahren wirkt es vorbeugend, kann das Kind tatsächlich entscheiden, welche Gefahr ihm etwa beim Klettern drohen könnte. Was sich dadurch zeigen kann, dass es eine weiche Unterlage unter einen Baum legt, an dem es sich hochziehen möchte, um einen denkbaren Sturz abzufedern.

Bis sich diese Fähigkeiten einstellen, „ist Ihr Kind auf Ihre vorausschauende Umsicht angewiesen“, appelliert Hanna Busch an Mütter und Väter.

Die JPI-Leiterin gibt ein paar praktische Tipps

• Kinder frühzeitig auf Gefahren aufmerksam machen, auch wenn sie vielleicht noch nicht verstanden werden.

Strukturen und Routinen im Alltag einführen. Klare, nachvollziehbare Regeln und Grenzen setzen.

• Schutzvorkehrungen konsequent umsetzen: Fenster und Balkontüren mit Kindersicherungen sichern, nichts stehen lassen, was ein Überklettern ermöglicht.

• Ein Kind nie alleine auf dem Balkon oder in einem Raum mit geöffnetem Fenster lassen und in der Nähe bleiben. Wird stoßgelüftet, den Raum zusammen mit dem Kind verlassen.

Hanna Busch schlägt Eltern ein kleines Experiment vor: „Legen Sie sich zu ihrem Kind auf den Boden, um einmal dessen Blickwinkel einzunehmen. Sie werden vielleicht überrascht sein, was alles erreichbar ist.“