Essen. Jedes dritte Abi in Essen hat eine Eins vor dem Komma. Zahl der Einser-Abis steigt seit 20 Jahren. Gründe der Noten-Inflation sind schleierhaft.
Die Zahl der Abiturprüfungen in Essen, die mit einer Eins vor dem Komma abgeschlossen werden, steigt rasant. Das belegen Zahlen des NRW-Schulministeriums. Die Quote stieg von 13 Prozent im Jahr 2002 auf über 30 Prozent im Jahr 2022. Im vergangenen Jahr schnitt demnach jeder dritte Essener Abiturient mit einem Einser-Abi ab – also einem Ergebnis, das besser ist als 2,0.
Zurzeit bekommen etwa 2900 junge Männer und Frauen in Essen ihr Abizeugnis überreicht. Rund 2000 davon besuchen ein Gymnasium im Stadtgebiet, etwa 400 eine Gesamtschule. Gut 300 junge Leute haben ihr Abi an einem Berufskolleg gemacht. Der Rest verteilt sich auf andere, besondere Schulformen.
Traumnote 1,0: Sieben schafften sie im Jahr 2002. Im letzten Jahr waren es 99
Besonders eklatant ist der Anstieg der Zahl jener Schülerinnen und Schüler, die mit der Traumnote 1,0 die Schule verlassen: Im Jahr 2002 schafften das in Essen gerade mal sieben Abiturienten. Im Jahr 2022 waren es 99 – die Zahl hat sich also vervierzehnfacht. Zahlen fürs jetzt beendete Abitur 2023 liegen noch nicht vor. Im Jahr 2022 lag der Essener Abi-Schnitt bei 2,36 - das ist exakt der gleiche Wert wie der NRW-Landesschnitt. Vor 20 Jahren waren es 2,74 (Essen) beziehungsweise 2,68 (NRW).
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Wird das Abi immer einfacher, oder werden Schüler immer schlauer? Oder die Lehrer immer gnädiger? Berthold Urch, Leiter des Alfred-Krupp-Gymnasiums an der Stadtteilgrenze zwischen Holsterhausen und Frohnhausen, ist Sprecher aller Essener Gymnasien. „Dass das Abitur immer leichter wird, ist eine verzerrte Perspektive, auch wenn es gerne geglaubt wird, vor allem in der Politik“, kritisiert Urch. „Das Abitur war schon immer und ist auch weiterhin eine hohe Anforderung an jeden Schüler und jede Schülerin.“
Zentrale Prüfungen werden nicht zentral bewertet
Doch wie erklärt sich dann die geradezu inflationäre Entwicklung bei den guten Noten? Die Abiturprüfungen für Gymnasien und Gesamtschulen werden in NRW seit dem Jahr 2007 zentral gestellt. Berufskollegs erhalten andere Abituraufgaben – aber auch einheitliche, seit 2008. Doch die Bewertung bleibt den Schulen beziehungsweise Lehrerinnen und Lehrern überlassen.
„Zwei Lehrer einer Schule bewerten jeweils eine schriftliche Prüfung. Können sie sich nicht einig werden, wird ein dritter hinzugezogen“, erklärt Urch. In jedem Jahr werden außerdem landesweit Abi-Fächer ausgewählt, deren Prüfungen nicht nur von der eigenen Schule bewertet werden, sondern zur weiteren Begutachtung auch an eine andere Schule wandern.
Lehrer können in gewissem Rahmen selbst entscheiden
Wer glaubt, Lehrerinnen und Lehrer hätten bei der Bewertung einer Abiklausur völlig freie Hand, der irrt: „Es gibt strenge Richtlinien, es bleiben nur geringe Spielräume“, sagt Urch. Zum Beispiel bei Deutsch-Arbeiten: Wie hoch ist der Punktabzug bei Kommafehlern? „Bei solchen Fragen können die Lehrer in einem gewissen Rahmen selbst entscheiden“, erklärt Urch.
Ist das Abi im Essener Norden – mit mehr Schülern aus bildungsfernen Schichten – leichter als im Essener Süden, weil im Norden die Lehrer milder bewerten, weil sie ein anderes Selbstverständnis haben? Gegen solche Klischees verwehrt sich Urch: „Dass ein Gymnasium im Essener Norden völlig andere Maßstäbe anlegen kann als eine Schule im Süden, kann nicht sein“, sagt Urch. „In der Gänze werden die Unterschiede deshalb nicht sonderlich groß sein.“ Viel hänge allerdings von den persönlichen Bewertungsmaßstäben der einzelnen Pädagogen ab.
Sind die Chancen auf dem Arbeits- oder Unimarkt schlecht, wird das Abi besser
Urch hat jedoch in vielen Jahren die persönliche Beobachtung gemacht, dass die Bewertung der Abi-Prüfungen durchaus von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt: „Das sind Marktmechanismen. Haben Schülerinnen und Schüler grundsätzlich schlechtere Einstellungschancen auf dem Arbeitsmarkt oder hohe Hürden zu überwinden beim Zugang zur Hochschule, werden eher bessere Noten gegeben.“
Was am Ende, wen wundert’s, zu einem Teufelskreis führt, über den viel geklagt wird: Sehr hohe Zugangsvoraussetzungen (Numerus Clausus) an den Hochschulen, überraschend gute Abi-Zeugnisse, hoher Zulauf an den Universitäten, und am Ende noch höhere Zugangsvoraussetzungen. Beispiel: Wer zuletzt an der Uni Duisburg-Essen Psychologie (Bachelor) studieren wollte, benötigte einen Abiturschnitt von 1,1. Für das Fach Biologie war 1,6 gefordert, wer Grundschullehrer (Natur- und Gesellschaftswissenschaften) werden will, muss einen Notenschnitt von 1,7 mitbringen.
Auffällig ist außerdem: Obwohl es so viel mehr Einser-Abis gibt, stieg der allgemeine Schnitt in Essen und NRW nur schwach. Was bedeutet: Es muss auch mehr schwach bewertete Abizeugnisse geben als früher. Darüber gibt die NRW-Statistik leider keine Auskunft.
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