Essen. Bei der Brost-Akademie diskutierten Dieter Nuhr und der Verfassungsrichter Peter Müller über Denkverbote und den Wert der Meinungsfreiheit.

Das wird man wohl noch sagen dürfen! Wirklich? Darf man das? Und wer regelt das, was unsagbar sein soll? Zur Debatte „Über die Meinungsfreiheit in Deutschland“ hatte am Dienstagabend die Brost-Akademie auf Zollverein zwei wortgewaltige Befürworter einer offenen Streitkultur eingeladen: den Kabarettisten und Künstler Dieter Nuhr sowie den früheren saarländischen Ministerpräsidenten und heutigen Verfassungsrichter Peter Müller (CDU).

Hombach: Unzureichend diskutierte Themen werden explosiv

Den Sound des Abends gab der Gastgeber, der Vorstand der Broststiftung Bodo Hombach vor, der am Beispiel der Debatte ums Gendersternchen die Tendenz „zum verordneten Sprech“ festmachte – die eine Haltung befördern soll. „Denn Haltung prägt auch Handlung“. Sprache werde zum Lenkungsinstrument. Es gebe dann im Sprachgebrauch eine „wirkliche Wahrheit“ – die jede andere ausschließen soll. Hombach nennt den Begriff des „Gute Kita-Gesetz“ als Beispiel, die die Kritik daran zu etwas Ungutem abstempelt. Orwell habe mit „1984“ das Endstadium einer solchen Entwicklung skizziert. „Wir diskutieren heute über das Frühstadium.“Unzureichend diskutierte Themen werden explosiv“, mahnt Hombach – „denn das unausgesprochene Wort ist doch in aller Munde“. Und der Satz, dass der gute Zweck alle Mittel heilige, der sei die DNA des Totalitarismus.

Peter Müller knüpfte daran an und machte mit seinem Eingangsstatement gleich die verfassungsrechtliche Dimension des Themas klar: Ohne offenen Meinungsaustausch und Streit der Standpunkte ist die Demokratie am Ende. Und deswegen warnt er davor, die Diskursräume eng machen zu wollen: Nicht jeder, der an Corona-Maßnahmen zweifelt, sei ein Corona-Leugner. Nicht jeder, der Zweifel an der Klimapolitik der Bundesregierung hat, sei ein Klima-Leugner. Nicht jeder, der über die Kriminalitätsrate unter Zugewanderten reden möchte, sei ein Rechter. „Wer diese Menschen in Ecken stellt, der möchte sich schlicht nicht mit ihren Argumenten befassen“, so Müller. Wenn moralische Haltungen absolut gesetzt und Andersdenkende diskreditiert werden, dann werden notwendige Debatte so eingeschränkt, dass Probleme nicht benannt und diskutiert werden können. Dieter Nuhr, der regelmäßig ins rechte Eck gestellt und als Klimaleugner attackiert wird, kann als Bestätigung dieser Mechanismen gesehen werden.

Nuhr: Wir haben nicht den Hebel, um den Klimawandel zu stoppen

Nuhr führt an dieser Stelle die hitzig geführte Diskussion um das von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geplante Heizungsgesetz ins Feld: Viele Menschen zweifelten an der Sinnhaftigkeit, weil „wir schlicht nicht den Hebel haben, um den Klimawandel zu stoppen“, argumentierte Nuhr und verwies auf den Anteil von rund 2%, den Deutschland am weltweiten Ausstoß von Klimagasen hat. Das sei für manchen vielleicht schwer zu ertragen, aber nicht zu ändern. Das von der Moderatorin des Abends, der Journalistin Ulrike Demmer, vorgebrachte Argument, Deutschland habe eine Vorreiterrolle, erscheint Nuhr dürftig für eine gewaltige Milliarden-Investition, die an anderer Stelle vielleicht sinnhafter wäre: „Niemand auf der Welt schaut auf Deutschland als Vorbild“. Frankreich dagegen befrage nun seine Bürger, wo die Prioritäten der nationalen Klimapolitik liegen sollen.

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Warum finden sich immer mehr Bürger in der aktuellen Politik nicht wieder?

Peter Müller wiederum nennt als weiteres Beispiel die laufende Diskussion der etablierten Parteien um den Höhenflug der AfD. Das erschöpfe sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Aber kaum einer stelle die Frage, warum sich eine wachsende Zahl von Wählern offenbar nicht wiederfindet in der aktuellen Politik.

Nuhr führt fort mit dem Beispiel der Migrationspolitik: Die Debatte darüber, das Unwohlsein mit der wachsenden Zuwanderung und den daraus entstehenden Konsequenzen für Kommunen und die überlasteten Sozial- und Bildungssysteme, die werde täglich von vielen Menschen gespürt und geführt. „Und sie sehen in den Sozialen Medien, dass sie nicht alleine mit dem Unwohlsein sind.“ Aber in den Parteien und den Medien finde das kaum entsprechenden Niederschlag: Es gebe eine erhebliche Diskrepanz zwischen öffentlicher Meinung und veröffentlichter Meinung.

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Und es gebe eine Art Wirklichkeitsverweigerung: Man wisse, dass viele zugewanderte Muslime ein Frauenbild haben, das mit den hiesigen Werten nicht übereinstimmt. Aber wir diskutieren dies nicht öffentlich, weil es anrüchig „rechts“ erscheine. Tatsächlich müsste aber auch die Politik fragen, wieviel dieser Zuwanderung die Gesellschaft vertragen kann – und ob es diese Zuwanderung ist, die man möchte.

Lasst uns nicht Personen angreifen, sondern politische Positionen

Eine erhebliche Rolle komme an dieser Stelle, da waren sich beide einig, den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten zu, die den verfassungsrechtlichen Auftrag habe, die Lebenswirklichkeit und das Meinungsspektrum aller Bürger zu repräsentieren. Da sei noch „Luft nach oben“, aber eigentlich kein Raum für Haltungsjournalismus.

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Wie man allerdings die „Meinungshoheit“ brechen könne, die dazu führe, dass bestimmte Diskussionen gar nicht geführt werden, da waren sich die Diskutanten unschlüssig. Klar ist: in Deutschland kann jeder seine Meinung sagen. Klar ist auch: Er setzt sich damit mitunter Anfeindungen aus – im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb und vereinzelten anderen Sektoren drohten auch berufliche Konsequenzen.. Müllers Appell: Wir müssen aufhören, in den politischen Debatten Personen anzugreifen, sondern wir müssen um Positionen streiten. Und: „Wir sollten uns der Meinungshoheit nicht ergeben, sondern den Streit offen führen“. Dieser Debattenabend sei ein Mosaiksteinchen für die Schaffung neuer Diskursräume.