Essen-Werden. Das Leben von Amalie aus Essen war kurz und von Krankheit geprägt. Ein Stolperstein erinnert an ihr Dasein, dem das NS-Regime ein Ende setzte.
Hinter jedem Stolperstein verbirgt sich eine Geschichte. An der Ruhrtalstraße in Essen-Werden erinnert nun ein solcher an das bewegende Schicksal der Amalie Uhlenbruch, die am 5. Januar 1941 unter tragischen Umständen ums Leben kam.
Unsere Geschichte beginnt in Köln. Dort wohnt und lebt Hans-Joachim Baum. Der 62-Jährige ist in der Domstadt geboren, kennt seine Großtante Amalie nur aus Erzählungen seiner Mutter Waltraud. „Die Mama hat zeitlebens immer sehr liebevoll von ihrer ,Tante Malli’ gesprochen. Doch was sie mir erzählte, hat mich so stark berührt und betroffen gemacht, dass ich vor zwei Jahren auf die Idee kam, den Historischen Verein Essen zu kontaktieren, um einen Stolperstein vor dem Haus von Amalies Bruder Wilhelm an der Ruhrtalstraße 163 legen zu lassen.“ Dort hatte Amalie zuletzt in Essen gewohnt.
Wer also war Amalie Henriette Maria Uhlenbruch, so ihr voller Name, deren Leben unter fragwürdigen Umständen während der Wirren des Zweiten Weltkriegs endete? Geboren wurde Amalie am 19. Dezember 1894 als Tochter des Polsterermeisters Wilhelm und seiner Frau Amalie Uhlenbruch. Wohlbehütet und gemeinsam mit ihren zwei Brüdern wuchs sie in ihrem Elternhaus an der Frohnhauser Straße 89 im Essener Westviertel auf, wo ihr Vater seine Werkstatt und auch ein Möbelgeschäft betrieb, das später von Hans-Joachim Baums Großvater Wilhelm Friedrich Uhlenbruch weitergeführt wurde.
Ein Sturz aus dem Fenster im ersten Stock des Elternhauses veränderte Amalies Leben
Es waren unbeschwerte Zeiten im Hause Uhlenbruch, die jedoch für die kleine Amalie früh enden sollten. Ein schwerer Unfall – Amalie mag zwei oder drei Jahre alt gewesen sein – veränderte ihr Leben nachhaltig. „Amalie war beim Spielen aus einem offenen Fenster im ersten Stock des Hauses auf den Bürgersteig gestürzt“, erfuhr Hans-Joachim Baum aus Erzählungen. „Dabei hat sie sich offenbar ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen.“
Die Wunden heilten schnell und zunächst verlief Amalies Kindheit noch unauffällig. Sie besuchte die Volksschule, die sie auch mit Erfolg abschloss. Das junge Mädchen spielte mit Leidenschaft Klavier, begeisterte sich auch an Handarbeiten. „Meine Mutter erzählte immer voller Bewunderung von den zarten und filigranen Deckchen, die Amalie mit großer Geduld gehäkelt hat. Davon habe ich heute noch einige“, sagt Hans-Joachim Baum. Doch dann senkt er die Stimme und fügt traurig an: „Vielleicht zehn Jahre nach dem Unfall bekam Amalie ihren ersten epileptischen Anfall.“ Die Ärzte diagnostizierten ihr die so genannte Fallsucht. Fortan war Amalie stets auf die Hilfe anderer angewiesen und lebte an der Seite ihrer Mutter.
Die Eltern verboten die Hochzeit der erkrankten Tochter
Die Zeit verging, und als „Tante Malli“ im Alter von 18 Jahren einen jungen Mann kennen und lieben lernte, reiften Hochzeitsträume und der Wunsch nach einer eigenen Familie. Doch die Reaktion ihrer Eltern war niederschmetternd: Amalie sei krank und dürfe daher keine Kinder bekommen und deshalb auch nicht heiraten. Für die junge Frau brach eine Welt zusammen.
Stattdessen bestimmte die Fallsucht ihr Leben. Regelmäßig besuchte sie die Nervenklinik Essen, wo sie ambulant behandelt wurde und ihre Medikamente bekam. Immer begleitet von ihrem Vater und später, nach seinem Tod, von der Mutter. Besonders ihr Vater versuchte unermüdlich, seiner Tochter das Leben zu erleichtern. Ständig suchte er nach neuen Therapien und schließlich erfuhr er von einer Medizin, die die Epilepsie zwar nicht heilen, doch ihren Verlauf zumindest bremsen konnte. Das neue Medikament kam direkt aus Frankreich, wo es ein Arzt entwickelt hatte. Ein kleines Gläschen mit einem silbernen Löffel zeugt davon. Ein Andenken an Amalie.
Die Weltwirtschaftskrise ging auch an der Polsterei Uhlenbruch nicht vorbei. Das Geschäft warf immer weniger ab, und Hans Joachim Baums Großvater meldete sein Gewerbe an und ab – je nach Auftragslage. Im Jahr 1935 zog er endgültig die Reißleine, verkaufte Haus und Hof an der Frohnhauser Straße, um mit seiner Familie zur Ruhrtalstraße nach Essen-Werden überzusiedeln. „Meine Urgroßmutter zog mit Amalie zu dieser Zeit erst in die Forsthausstraße nach Essen-Rellinghausen“, erfuhr Hans-Joachim Baum aus einem Melderegister. Ein Jahr später zogen beide nach Essen-Werden in die Ludwigstraße 4, bevor sie am 15. November 1939 in das Haus an der Ruhrtalstraße einzogen.
Als Todesursache gab die Pflegeanstalt in Süchteln „Lungenentzündung“ an
Der Zweite Weltkrieg hatte da schon begonnen. Was besonders der Urgroßmutter, die schon einen Krieg überstanden hatte, zusetzte. „Diese Erlebnisse müssen entscheidend zu ihren Tod beigetragen haben“, ist sich Hans-Joachim Baum sicher. Amalie lebte dann noch ein knappes Jahr ohne ihre Muttter im Hause des Bruders, bevor sie am 8. Oktober 1940 in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg – der heutigen LVR-Klinik – nach Düsseldorf eingewiesen wurde. Kurz darauf „verlegte“ man sie in die Heil- und Pflegeanstalt Süchteln-Johannistal, wo sie kurz darauf am 5. Januar 1941 starb. Amalie Uhlenbruch wurde nur 46 Jahre alt.
Todesursache: Lungenentzündung, wurde der Familie damals mitgeteilt. Doch Hans-Joachim Baum ist fest davon überzeugt, dass die bedauernswerte „Tante Malli“ ein Opfer des NS-Euthanasieprogramms wurde und ermordet wurde. „Für die Nationalsozialisten war Amalie als Epileptikerin lebensunwert“, sagt er leise. Seine Großmutter habe Amalie in Grafenberg noch einmal besucht, bevor sie nach Süchteln gebracht wurde. Amalie habe sie angefleht, sie mit nach Hause zu nehmen, weil sie „das Schlimmste befürchtete“, wie Hans-Joachim Baum sagt. „Schon da hatte sie wohl Todesangst.“
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