Essen. Radexperte Peter Gwiasda rät der Fahrrad-Lobby, sich von Dogmen zu lösen. Warum eine strikte Trennung von Rad- und Autoverkehr nicht möglich ist.

Angesichts des geplanten Ausbaus des Radverkehrs in der Stadt Essen hat der Radverkehrsexperte Peter Gwiasda Fahrrad-Initiativen dazu aufgefordert, sich von Dogmen zu verabschieden. Fahrrad- und Autoverkehr müssten nicht unter allen Umständen voneinander getrennt werden, wie es die Fahrrad-Lobby verlange.

Die Stadtverwaltung forderte der bundesweit tätige Experte auf, bei der Umsetzung des Radentscheides experimentierfreudiger zu sein. „Sie dürfen auch Fehler machen“, sagte Gwiasda beim „Bürgerdialog“ am Mittwochabend im Atlantic Congress Hotel, wo Vertreter der Verwaltung und der Initiative Radentscheid Essen, gemeinsam mit rund 150 Bürgerinnen und Bürgern eine Zwischenbilanz zogen.

Rund 25.000 Essenerinnen und Essener haben für den Radentscheid unterschrieben

Seit rund 25.000 Essenerinnen und Essener das Bürgerbegehren für den Ausbau des Fahrradverkehrs unterschrieben haben und der Rat der Stadt dem Begehren beigetreten ist, treten die Initiatoren fordernd und selbstbewusst auf: Die Stadtverwaltung hat bitteschön zu liefern.

Zur Person

Peter Gwiasda gilt als ausgewiesener Experte für den Fahrradverkehr. Der studierte Geograf arbeitet seit 1987 als Projektleiter in der Verkehrsentwicklungs- und Radverkehrsplanung. Gwiasda ist zudem Mitglied der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, wo er den Arbeitskreis Radverkehr betreut.

Mit der Umsetzung ist die Initiative bisher jedoch alles andere als zufrieden. Was die Stadtverwaltung bislang angegangen ist, sei „zu wenig und nicht gut genug“, kritisierte Marco Hoffmann von Radentscheid Essen. „Wir sind enttäuscht.“

Eines wurde schnell deutlich: Das Verhältnis zur Stadt Essen ist von Misstrauen geprägt. Radentscheid Essen wirft der Verwaltung mangelnde Transparenz vor und unterschwellig auch fehlenden Willen. Starker Tobak in den Ohren von Essens Verkehrsdezernentin Simone Raskob auf dem Podium.

Rainer Wienke, Fachbereichsleiter im Amt für Straßen und Verkehr, erläuterte, wie die Stadt Essen den Radentscheid umsetzen will.
Rainer Wienke, Fachbereichsleiter im Amt für Straßen und Verkehr, erläuterte, wie die Stadt Essen den Radentscheid umsetzen will. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

In Zahlen liest sich die Bilanz tatsächlich bescheiden, zumindest gemessen in Kilometern: An neuen Radwegen sind im vergangenen Jahr 1,3 Kilometer hinzugekommen, acht Kilometer sind in diesem Jahr geplant.

Noch nimmt die Verwaltung Anlauf, sucht Personal. Richtig Fahrt aufnehmen soll die Umsetzung des Radentscheides ab 2025, versprach Rainer Wienke, Leiter des Amtes für Straßen und Verkehr. Bis zum Jahr 2030 will die Stadt 202 Millionen Euro investieren, die Hälfte davon finanziert durch Zuschüsse, hofft man im Rathaus.

Bis zum Jahr 2035 soll sich der Verkehr in Essen gleichmäßig verteilen

Aufseiten von Radentscheid Essen überwiegt jedoch Skepsis. Die Verwaltung nehme zu viel Rücksicht auf die Belange der Autofahrer, lautete der einhellige Vorwurf. „In der Praxis wird der Radverkehr nur geduldet“, so eine Zuhörerin, die nach eigenen Worten täglich mit dem Fahrrad unterwegs ist und sich dabei mit „motorisierter Gewalt“ konfrontiert sehe.

Bis zum Jahr 2035 soll sich der Verkehr in Essen zu gleichen Teilen verteilen auf Auto-, Radverkehr, ÖPNV und Fußgängerverkehr. So lautet das erklärte Ziel. Gelingen kann dies aus Sicht von Radentscheid Essen nur, wenn Auto- und Radverkehr voneinander getrennt werden. Das heißt: Der Verkehrsraum müsste neu verteilt werden, zugunsten des Fahrrades. Das wiederum heißt unausgesprochen auch: Staus sind dann für den Autoverkehr eben hinzunehmen.

Rund 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren der Einladung der Stadt zum Bürgerdialog über den Radentscheid Essen gefolgt.
Rund 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren der Einladung der Stadt zum Bürgerdialog über den Radentscheid Essen gefolgt. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

„Bis auf die Huyssenallee sehen wir nicht viel“, sagte Marco Hoffmann mit Blick auf die Planungen der Stadt für 2023. Auf der Huyssenallee soll eine von zwei Fahrspuren für den Radverkehr markiert werden. Ansonsten begnüge sich die Verwaltung mit dem Markieren von Schutzstreifen, gestrichelter Linien, die von Autos überfahren werden dürfen und die Radfahrern nur unzureichend Schutz böten.

Radverkehrsexperte Peter Gwiasda kann hingegen nur warnen: „Wir dürfen keinen Angst-Narrativ in die Welt setzten.“ Fahrradfahren sei nicht sicher? Das stimme so nicht, was die Unfallstatistik belege.

Steuerungsmöglichkeiten sieht der Radverkehrsexperte über das Tempolimit

Der Fahrrad-Lobby legte Gwiasda nahe, sich von der Vorstellung zu lösen, Auto- und Fahrradverkehr strikt voneinander zu trennen. Denn: „Man wird in der Plus-Eins-Ebene keine neue Welt für den Radverkehr bauen.“ Er hätte auch, Luftschlösser sagen könne.

Gwiasdas Credo lautet deshalb: „Markieren, markieren, markieren.“ Und wenn es nicht anders geht, dann müsse es eben auch ein Schutzstreifen tun. Fahrrad- und Auto, es muss also auch nebeneinander gehen, weil Straßen zu schmal sind oder am Rand Bäume wachsen, die es aus Gründen des Klimaschutzes zu erhalten gilt.

Steuerungsmöglichkeiten sieht der Experte indes übers Tempolimit. Soll heißen: Tempo runter auf Straßen, die Radfahrer und Autofahrer gemeinsam nutzen. Auch Parkplätze sollten bei der Planung weniger stark ins Gewicht fallen. Autofahrer werden auch das nicht gerne hören.