Essen-Rüttenscheid. Das Paul-Gerlach-Bildungswerk der Awo bietet historische Rundgänge an. Ingo Pohlmann nimmt die Besucher mit auf eine Zeitreise durch Rüttenscheid.

Das am alten Handelsweg „strata coloniensis“ gelegene „Rudenscethe“ fand im 10. Jahrhundert erste Erwähnung. Wer von Essen nach Werden wollte, den führte sein Weg durch Rüttenscheid. Ingo Pohlmann, seit 2010 Gästeführer aus Passion, nimmt für das Paul-Gerlach-Bildungswerk der Awo Geschichte, Kultur und Gastronomie des Stadtteils in Augenschein. Da der erste Termin ruckzuck ausgebucht war, bietet Pohlmann nun den zweiten historischen Spaziergang an.

Man trifft sich am Marktplatz. Kalt ist es geworden, was der kurzweilige Rundgang aber schnell vergessen lässt. In gut 150 Minuten gibt es die volle Ladung an harten Fakten, netten Anekdoten und jeder Menge Lokalkolorit. Der Markt sei eine relativ neue Errungenschaft, erklärt Pohlmann: „Rüttenscheid war nur eine Landgemeinde und hatte bis 1905 kein Recht, Wochenmärkte auszurichten.“

Essen-Rüttenscheid wurde erstmals 970 urkundlich erwähnt

Erst dann habe urbaner Wohnungsbau im ländlich geprägten Rüttenscheid Einzug gehalten, Pohlmann verweist auf den Generalbebauungsplan des städtischen Beigeordneten Robert Schmidt. Pohlmann weist aber auch auf riesige rote Buchstaben: „So mancher fragt sich, welcher Zoo hier gemeint ist. Aber der Künstler meinte einen zackigen Pfeil und das Symbol 00 für die öffentliche Toilette.“

Ein „Zoo“ am Rüttenscheider Markt? Weit gefehlt. Ingo Pohlmann erklärt, dass der rote Schriftzug anzeigt, dass sich dort eine Toilette befindet.
Ein „Zoo“ am Rüttenscheider Markt? Weit gefehlt. Ingo Pohlmann erklärt, dass der rote Schriftzug anzeigt, dass sich dort eine Toilette befindet. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Nun geht es zum Rüttenscheider Stern, von dem gleich fünf Straßen abgehen. Zugig ist es hier auf der Anhöhe: „Genau hier verläuft die Wasserscheide. Links fließt alles der Ruhr entgegen und rechts zur Emscher hin.“ Die erste urkundliche Erwähnung Rüttenscheids als „Rudenscethe“ ist im Jahr 970 datiert. Ursprung ist wohl das auf Altsächsisch „hriudi“ genannte Riedgras, also Schilf. Der Ursprungshof war die Sommerburg, ein fränkischer Adelssitz. Eine sogenannte „Motte“ mit Holzpalisaden. Sie fand sich im Bereich der Margarethenhöhe, die früher zu Rüttenscheid gehörte und erst 1948 eigenständiger Stadtteil wurde.

Bis zum Krieg gab es eine Goetheschule in Rüttenscheid

Es geht die Zweigertstraße herunter, an der Ecke Goethestraße hält Pohlmann inne: „Die dazugehörige Goetheschule gab es auch. Sie wurde im Krieg zerstört und nach Bredeney verlegt.“ Der Weltkrieg habe fürchterlich gewütet in Essen: „Von 187.000 Wohnungen blieben gerade einmal 6000 unbeschädigt.“ In der Goethestraße habe sich die Metzgerei Bartsch befunden: „Der Name lässt schaudern.“ Denn er ist mit einer schrecklichen Geschichte verbunden. Das uneheliche Kind Karl-Heinz Sadrozinski wurde vom kinderlosen Ehepaar Bartsch aufgenommen und im Keller versteckt. Er hieß nun Jürgen Bartsch, kam ins Heim, wurde von einem Priester missbraucht, entwickelte selbst sadistische Tendenzen und tötete vier Jungen. Die Gruppe fröstelt es, nicht nur der Kälte wegen.

Ingo Pohlmann (rechts) führt die Gruppe bei seinem historischen Spaziergang unter anderem am Rüttenscheider Stern vorbei.
Ingo Pohlmann (rechts) führt die Gruppe bei seinem historischen Spaziergang unter anderem am Rüttenscheider Stern vorbei. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Schnell geht es weiter die Goethestraße entlang, am Theater Courage vorbei, am Goethebunker, am Beginenhof im früheren Finanzamt Essen-Süd. Nun biegt Pohlmann ab und zeigt auf eine Eckkneipe: „Hier ist die Drehscheibe von René Pascal. Der „Schlagergott vom Kohlenpott.“ Die Gruppe quert die Rüttenscheider und bestaunt die Kult-Kneipe Ampütte: „Ein Familienbetrieb seit 1901.“ An der Ecke von Brigittastraße und Witteringstraße war früher „dem Penny seine Kneipe“. Franz „Penny“ Islacker schoss Rot-Weiss Essen zur Deutschen Meisterschaft 1955.

Siechenhauskapelle ist das älteste Gebäude von Rüttenscheid

Die nächsten Termine

Ende Januar begibt sich Ingo Pohlmann an zwei Tagen mit dem ÖPNV auf die Spuren jüdischen Lebens erst in Innenstadt, Frohnhausen und Borbeck, dann in Steele, Werden und Kettwig. Am 12. Februar führt er über die Margarethenhöhe.

Anmeldungsformalien wie Treffpunkt und -zeit sowie Teilnahmegebühr können bei Lilia Gerlach unter 0201 1897421 oder unter lilia.gerlach@awo-essen.de erfragt werden. Ingo Pohlmann ist unter 01575 2010754 oder stadtfuehrungen-essen@web.de zu erreichen. Weitere Infos gibt es auf der Seite www.stadtfuehrungen-essen.de.

An der Sophienstraße zeigt Pohlmann hinab: „Hier war das Quellgebiet des Rellinghauser Baches.“ Herunter geht es zu Maria-Wächtler- und Helmholtz-Gymnasium. Hier lag die bereits 943 erwähnte Bauernsiedlung „Fugalinghusen“. Auf dem Gelände des letzten noch existierenden Hofes wurde 1974 das Schwimmzentrum Rüttenscheid errichtet. Nun biegt Ingo Pohlmann um zwei Ecken und steht vor einem Gedenkstein: „Hier wurde 1804 eine Bauersfrau vom Blitz erschlagen.“ Das letzte Relikt bäuerlicher Vergangenheit.

Im 15. Jahrhundert wurde zur geistlichen Betreuung von Aussätzigen und Leprakranken die Siechenhauskapelle gebaut. Das älteste Gebäude des Stadtteils. Gegenüber fand sich das im Krieg zerstörte Rathaus. Seit Napoleon gehörte Rüttenscheid zur Bürgermeisterei Altenessen, ab 1874 zu Stoppenberg und ab 1884 zu Rellinghausen.

1900 erhielt Rüttenscheid dann endlich eine eigene Bürgermeisterei. Allerdings nur für fünf Jahre, bis zur Eingemeindung nach Essen im Jahre 1905. In den Jahren zuvor machte Essens OB Erich Zweigert den Rüttenscheidern viele Versprechen, die meisten wurden sogar eingehalten: So erhielt Rüttenscheid das Marktrecht und einen entsprechenden Platz dazu, wurde Standort des Landgerichts, die Felixstraße (später Zweigertstraße) wurde als großzügiger Boulevard gebaut, was wiederum das Polizeipräsidium anzog.

Blieb ein Problem: Erster und einziger Rüttenscheider Bürgermeister war Friedrich Wilhelm Hild und Ingo Pohlmann lästert: „Die Rüttenscheider wollten diese Eingemeindung eigentlich nicht. Hier war so etwas wie eine Steueroase.“ Aber dann habe der Bürgermeister einen hohen Betrag als Abfindung erhalten, „und die Sache war klar“.