Essen. Die Arbeitsgruppe Stadttauben Essen-Steele betreibt einen Schlag auf dem Dach eines Parkhauses. Warum sie den Tauben die Eier wegnehmen.
Monika Hedtkamp trägt die verletzte Taube in ihren Händen vorsichtig vom Schlag auf dem Parkhausdach eine halbe Treppe hinunter in den kleinen Aufenthaltsraum. „Gut, dass wir sie gesehen haben“, seufzt die 82-Jährige, als sie den gefiederten Patienten mit einem Schluck Wasser und einer sättigenden Schale Körner in die Box setzt.
Die Taube habe sich wohl das dünne Beinchen gebrochen, vermutet die Tierschützerin. Jetzt werde sie langsam wieder aufgepäppelt. Im Vereinsraum der Arbeitsgruppe Stadttauben Essen-Steele e. V. ist sie nicht allein, ein halbes Dutzend Tauben hocken in weiteren Boxen. Das Zimmer ist zugleich Krankenstation, ein Tauben-Lazarett. An eine der Boxen haben sie einen Hinweiszettel geklebt. Darauf steht die Warnung: „Vorsicht, nicht greifen. Er ist blitzschnell und fliegt raus.“ Tauben-Mama Monika nennt ihn liebevoll „dat Mäusken“ und erwähnt, dass er Nierenprobleme habe und deshalb Medikamente erhalte.
Tauben retten und heilen – das ist Monika Hedtkamps Lebenswerk. Dass andere die Gegenwart der Taube in der Großstadt als Plage empfinden und sie gar als „Ratten der Lüfte“ verachten – darüber schüttelt sie den Kopf. Wie viele Tauben in den vergangenen Jahrzehnten durch ihre schützenden Händen gegangen sind, vermag sie nicht genau zu sagen. Irgendwann hat sie aufgehört zu zählen, aber es dürften Tausende sein.
Stadt verhängt ein Fütterungsverbot, die Stadttauben-Leute finden das tierschutzwidrig
Die Stadt Essen hält sich an die Vorgaben des Ministeriums, wonach Stadttauben Wildtiere sind, die folglich auch nicht gefüttert werden dürfen. Bei Verstößen droht schlimmstenfalls sogar ein Bußgeld. Doch die langjährige Vorsitzende der „Arbeitsgruppe Stadttauben“ widerspricht energisch: „Stadttauben, die heute alle Großstädte der Welt besiedeln, sind keine Wildtauben, sondern verwilderte Haustauben.“ Folglich sei das Fütterungsverbot tierschutzwidrig, empört sie sich. „Sie vermehren sich auch, wenn sie nicht gefüttert werden. Aber dann fressen sie aus lauter Verzweiflung Dreck und Müll.“
In enger Anlehnung an das „Augsburger Modell“ hat der Steeler Stadttauben-Verein schon 2005 auf dem Dach eines Parkhauses einen Schlag errichtet, um im näheren Umkreis möglichst viele Tauben von der Straße zu holen. Hier oben werden die Hungrigen mit nahrhaftem Korn gefüttert und die Kranken wieder aufgepäppelt. Gleichzeitig sind sie bestrebt, den Bestand auf tierschutzgerechte Weise zu verringern. Der Trick ist denkbar einfach und effizient: Hedtkamp hält saubere Ei-Attrappen aus Plastik in der Hand und sagt: „Die lege ich ins Nest und nehme das echte Ei raus.“
Die Tierschützerin deutet auf eine Schale, in der schon sechs Taubeneier liegen – die Ausbeute dieses Tages. „Letztens lagen da sogar 15 drin.“ Je mehr Plastikeier sie gegen echte austauschen, desto stärker schrumpft die Population im Steeler Quartier rund um den Kaiser-Otto-Platz. Zu Beginn ihres Projektes haben die Stadttauben-Leute noch gut 700 Tauben gezählt, zwischenzeitlich schrumpfte der Bestand auf 350, doch in letzter Zeit steige die Zahl – etwa durch ständige Zuflüge verirrter Brief- und Hochzeitstauben sowie anderer Stadttauben – wieder stark in Richtung 500.
Stadttauben brüten bis zu acht Mal im Jahr, ständig werden Eier aus ihren Nestern geholt
Immer wieder patrouillieren die Taubenfreunde auch durch den Stadtteil, um brütende Tauben an Fassaden, in Nischen, unter Brücken oder auf Eisenträgern ausfindig zu machen. Dann tun sie dasselbe wie im Schlag: Leiter an die Wand, hochklettern, Ei-Attrappe rein und Original-Ei raus. Weil Stadttauben bis zu acht Mal im Jahr brüten, müssen ständig Eier aus ihren Nestern geholt werden.
Der Schlag auf dem Parkhausdach wird von den Tauben in der Umgebung gut angenommen. An diesem goldenen Oktober-Nachmittag lassen sich mehrere Dutzend die wärmende Sonne in aller Ruhe aufs schillernde Gefieder scheinen. Eigentlich ein Tauben-Idyll. Doch schon beim ersten Hinsehen fällt auf, dass der Schlag in die Jahre gekommen ist und eigentlich von Grund auf modernisiert, am besten sogar gegen einen neuen ausgetauscht werden müsste.
Monika Hedtkamp begegnet den Herausforderungen auf dem Parkhausdach mit großer Leidenschaft und neuerdings mit noch mehr Zähigkeit. Seit einem schlimmen Sturz vor zwei Jahren ist sie erheblich gehandicapt. Die Leiter hochkraxeln bis aufs Dach wie noch vor zwei Jahren – das sei nicht mehr drin. Trotzdem rackert sie sich zwei Mal in der Woche vier Stunden lang für ihre gefiederten Freunde ab. Tauscht altes Zeitungspapier gegen neues aus, sammelt Kot ein, füllt die Futternäpfe und schenkt Wasser nach.
Die Steeler Stadttauben haben Namen: Sie heißen Pucky, Rambo, Blacky, Adam und Eva
Normalerweise werden Tauben höchstens fünf Jahre alt, Stadttauben wie die in Steele schaffen locker das Dreifache. Die Bande zwischen dem Team und der Kreatur sind im Laufe der Jahre so innig, ja herzlich geworden, dass Monika Hedtkamp den treuesten Freunden längst Kosenamen verpasst hat. Sie heißen Pucky, Adam und Eva, Elfi oder Rambo. „Blacky lässt sich sogar streicheln wie eine Katze, genauso wie Bingo, aber den haben wir schon lange nicht mehr gesehen.“
Eine Handvoll Tierschützer teilen sich den ehrenamtlichen Dienst in Steele. Monika Hedtkamp wird heute unterstützt von Astrid Spiegel (77), die dem Trinkwasser einen Zusatz beimischt, der bakterielle Infektionen verhindern soll. Außerdem verteilt sie Schlagweiß, das den Boden im Schlag desinfiziert und die Ausbreitung von Salmonellen verhindern soll. Das rot-weiße Flatterband soll Greifvögel fernhalten. Als der Dienst am Schlag beendet ist, schließt Monika Hedtkamp die Türen und sagt: „So, Ihr macht jetzt Heia.“
Tauben schützen ist Monika Hedtkamps Lebenswerk: „Ich bleibe bis zum letzten Atemzug“
Miete bezahlen sie für die Nutzung des Parkhausdaches nicht. Das Gebäude gehört der Stadt Essen und ist an einen Kfz-Betrieb vermietet. Gerne würde es die Tierschützerinnen sehen, wenn mit Unterstützung der Stadt weitere Schläge für Stadttauben errichtet werden könnten.
Monika Hedtkamp und die Tauben: Über die Jahre ist daraus eine tiefe Freundschaft geworden. „Sie sind friedfertig, lieb und verständnisvoll“, schwärmt sie. Sie weiß, dass sie wegen des schlimmen Sturzes kürzer treten muss. Aber aufhören, nein, das komme für sie überhaupt nicht infrage. „Ich werde hierbleiben bis zum letzten Atemzug.“
>>> INFO: Hilfe für Stadttauben in Steele
Die Arbeitsgruppe Stadttauben in Steele, ein gemeinnütziger Verein, ist auf Spenden angewiesen.
IBAN: DE97 3605 0105 0002 6014 33 (Sparkasse Essen)