Essen. Etwas betagt, aber immer noch gefeiert: Rock-Ikone Ian Anderson zelebriert in Essen nicht nur die alten Hits. Ein Seitenhieb geht auch an Putin.
Im skurrilen Rumpelstilzchen-Look, auf einem Bein stehend, darüber, locker angewinkelt, das Spielbein gelegt, und mit einer Querflöte, so hat es Ian Anderson unverkennbar zu einer Rock-Ikone gebracht. Als Kopf der Band Jethro Tull hat der gebürtige Schotte nicht nur der Rockmusik die Flötentöne beigebracht. Er hat seine Band auch in den erlauchten Kreis des Progressive Rock eingeführt, in dem raffinierte Arrangements exquisite Spieltechnik und nicht selten Klassik-Adaptionen zusammen kamen. Jene „Prog Years“ – 1968 wurde das Tull-Debüt „This Was“ veröffentlicht – feierte Ian Anderson nun mit neuen Musikern in der mit 1100 zu Recht begeisterten Fans ausverkauften Essener Lichtburg.
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Andersons frühere Zausel-Erscheinung ist mittlerweile Jeans, T-Shirt und Weste gewichen, doch selbst mit 75 Jahren steht er noch immer sicher auf einem Bein oder schleicht gebückt als verführender Flötenspieler über die Bühne. Seine Spieltechnik aus scharf angeblasenen Tönen, hemmungslosem Überblasen, sowie die Vermengung aus Flötenblasen und Gesang sind noch immer einzigartig. Der Gesang, von jeher kauzig-knarzig, hat dem Alter keinen Tribut zollen müssen.
Die Fangemeinde feiert die Klassiker wie „Locomotive Breath“
Die Verführung der Fangemeinde besteht einerseits aus zahlreichen Klassikern, beginnend beim ältesten Titel „Dharma for One“, über „Living in the Past“, „Bourée in E minor“ nach Johann Sebastian Bach sowie „Aqualung“ bis hin zum mit Ovationen im Stehen bedachten „Locomotive Breath“.
Anderson belässt es jedoch nicht bei den wohlbekannten Hits, sondern gräbt auch alte Schätze aus, die nur noch einer beinharten Fangemeinde geläufig sind. Letztlich reicht der typische Tull-Sound aber bis in die Gegenwart, im Januar erschien mit „The Zealot Gene“ das 22. Album, im April kommenden Jahres ist mit einem weiteren neuen Album zu rechnen.
Der Sound in der Lichtburg ist einmal mehr herausragend. Tull-Schlagzeuger Scott Hammond, der wie zu „Dinosaurier-Zeiten ein monatelanges Drum-Solo“ der Extraklasse abliefern darf, brilliert mit komplexen Spieltechniken. Prog-rockige Soli präsentiert Gitarrist Joe Parrish-James. Und Keyboarder John O`Hara ist für Anderson der kongeniale Duett-Partner, dem man gern verzeiht, dass er beispielsweise bei „Love Story“ Mandolinen-Klänge aus dem digitalen Fundus des Computers beisteuert.
Die Band kann nicht nur abrocken, sie platziert auch politische Statements
Es geht in Andersons Songs nicht nur um vorgeschoben ironische Selbsterkenntnis wie etwa bei „Too Old to Rock`n`Roll, Too Young to Die“, mit dem die Band sehr wohl beweist, dass sie noch abrocken kann, sondern auch um politische Statements. Mit „Clasp“, was soviel wie bekräftigender Händedruck bedeutet, entlarvt er am Beispiel von Politikern – explizit nennt er Wladimir Putin – wie wenig diese Geste letztlich wert ist.
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In „Mrs Tibbets“ thematisiert er das atomare Grauen durch die psychoanalytisch interessante Tatsache, dass der US-Bomber-Pilot Paul W. Tibbets, der im August 1945 die Atombombe auf Hiroshima abwarf, sein Flugzeug nach dem Vornamen seiner Mutter Enola Gay benannte. Eine exzellente, aus mehreren Sätzen bestehende Langversion von „Aqualung“ bildet letztlich den Beweis, dass die Musik von Jethro Tull zwar etwas betagt, jedoch längst nicht unbedeutend ist.