Essen. „Du kommst aus dem Gefängnis frei“, verspricht der Freiheitsfonds Schwarzfahrern, die in Haft sind. Auch JVAs bitten, die Häftlinge freizukaufen.

Es klingt wie eine Aufforderung zum Gefängnisausbruch: „Raus aus der JVA“, steht auf der Homepage der Initiative Freiheitsfonds. Die will keineswegs Schwerverbrecher befreien, sondern Schwarzfahrer. Sie landen meist nur deswegen in Haft, weil sie ihre Geldstrafe nicht zahlen können. Nun zahlt der Freiheitsfonds für sie, wirbt keck: „Wir kaufen Gefangene frei.“ Das ist nicht nur legal – die Justizvollzugsanstalten kommen sogar selbst auf den Fonds zu, auch die JVA Essen.

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Der Freiheitsfonds hat ein politisches Anliegen: Bus- und Bahnfahren ohne Fahrschein soll nicht länger als Straftat gewertet, der ÖPNV für alle kostenlos sein. Der Paragraf 265a, mit dem das „Erschleichen von Leistungen“ geahndet wird, treffe vor allem Arme, Arbeits- und Wohnungslose, Menschen, die psychische Probleme oder Suchtprobleme haben. Für sie ist eine Geldstrafe nicht – wie vom Gesetzgeber gedacht – die mildere Sanktion, sondern oft eine Katastrophe: Weil sie nicht zahlen können, müssen sie eine „Ersatzfreiheitsstrafe“ antreten. Auch Schwangere und betagte Rentner landen so hinter Gittern.

Auch der Sozialdienst der Justizvollzugsanstalt Essen sei schon auf den Freiheitsfonds zugegangen und habe gebeten, dass Geldstrafen für Gefangene beglichen werden, sagt die Leiterin der JVA, Beate Wandelt.
Auch der Sozialdienst der Justizvollzugsanstalt Essen sei schon auf den Freiheitsfonds zugegangen und habe gebeten, dass Geldstrafen für Gefangene beglichen werden, sagt die Leiterin der JVA, Beate Wandelt. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Staatsanwaltschaft Essen: Strafen können auch abgearbeitet werden

„Verfahren wegen Beförderungserschleichung werden nicht separat statistisch erfasst“, sagt der Sprecher des Essener Amtsgerichts, Michael Schütz. Daher könne er nicht sagen, wie viele Fälle es in Essen gebe. Auch die Staatsanwaltschaft Essen, die sicherstellen muss, dass die Geldstrafen gezahlt werden, hat keine Fallzahlen. Die für Presse zuständige Oberstaatsanwältin Anette Milk weist darauf hin, dass es neben der Ersatzfreiheitsstrafe möglich sei, die Strafe abzuarbeiten. Doch das müssten Betroffene beantragen: „Sie bekommen nicht gleich mit der Zahlungsaufforderung ein Arbeitsangebot.“ Denn es sei aufwendig, Plätze für die freie Arbeit zu finden – und viele schafften es dann nicht, pünktlich, regelmäßig oder überhaupt zu erscheinen. Auch Ratenzahlung halten sie oft nicht durch und landen am Ende doch in Haft.

„Sie bekommen nicht gleich mit der Zahlungsaufforderung ein Arbeitsangebot“, sagt Staatsanwältin Anette Milk über Menschen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein zu einer Geldstrafe verurteilt wurden und die Strafe auch abarbeiten könnten.
„Sie bekommen nicht gleich mit der Zahlungsaufforderung ein Arbeitsangebot“, sagt Staatsanwältin Anette Milk über Menschen, die wegen Fahrens ohne Fahrschein zu einer Geldstrafe verurteilt wurden und die Strafe auch abarbeiten könnten. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

In ganz NRW verbüßen derzeit 988 Personen eine Ersatzfreiheitsstrafe (4. 8.), sagt das Landesjustizministerium. Wie viele von ihnen Leistungen erschlichen haben, sei nicht bekannt. Doch der Anteil dürfte hoch sein: Schwarzfahrer gehören zu den klassischen Kandidaten für Ersatzfreiheitsstrafen. Nach den Zahlen des Freiheitsfonds müssten sie rechnerisch im Schnitt eine Buße von 970 Euro zahlen – und wissen nicht, wo sie das Geld hernehmen sollen. Gehen sie ins Gefängnis, bekommt der Staat kein Geld und es entstehen zusätzliche Kosten: Durchschnittlich 178,91 Euro wurden im vergangenen Jahr für einen Hafttag fällig, sagt das Justizministerium.

Paragraf 265a Strafgesetzbuch: Erschleichen von Leistungen

Schwarzfahren ist juristisch gesehen keine Bagatelle, sondern eine Straftat. Als Erschleichen von Leistungen steht es in § 265a Strafgesetzbuch: „(1) Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. (2) Der Versuch ist strafbar.“

Der „Freiheitsfonds“ fordert: „Fahren ohne Fahrschein muss entkriminalisiert und langfristig eine kostenlose Nutzung des ÖPNV ermöglicht werden!“ Der Fonds begleicht mit Spendengeldern die Geldstrafen von Betroffenen und holt sie so aus dem Gefängnis. Infos: www.freiheitsfonds.de/

So wundert es nicht, dass sich die – oft überbelegten – Justizvollzugsanstalten selbst an den Freiheitsfonds wenden und um Freikauf ihrer Gefangenen bitten: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, gehen inzwischen täglich mehr als ein Dutzend Mails ein: Da heißt es, man wolle einen „Antrag für einen Gefangenen stellen“. Oder „über ein paar Härtefälle sprechen“. Die ehrenamtliche Initiative, die von Moderator Jan Böhmermann mit angestoßen und im Dezember 2021 in seiner Sendung „ZDF Magazin Royale“ vorgestellt wurde, wird wie eine offizielle Stelle angesprochen.

Nach eigenen Angaben hat der Fonds schon 512 Menschen aus dem Gefängnis geholt, die zusammen 100 Haftjahre hätten verbüßen müssen. Mit knapp einer halben Million Euro Spendengeld habe man dem Staat so bereits mehr als fünf Millionen Euro Haftkosten erspart. Wie groß die Ersparnis für Essen ist, kann die Leiterin der hiesigen JVA nicht sagen. Beate Wandelt bestätigt aber, dass es auch hier freigekaufte Schwarzfahrer gegeben habe. Und: „Der Sozialdienst hat auch selbst Anfragen an den Freiheitsfonds gestellt.“ Die Mitarbeiter hätten dies mit Blick auf die Betroffenen getan, betont Wandelt, „nicht zur Reduzierung der Belegung der Anstalt“.

Auch Angehörige zahlen die Geldstrafen und holen Schwarzfahrer aus der Haft

Aktuell ist die JVA Essen mit ihren 528 Plätzen nicht überbelegt, und unter den 400 Gefangenen befinde sich „niemand nur aufgrund von Beförderungserschleichung“. Grundsätzlich gehören Schwarzfahrer auch hier zum Alltag: Es handele sich nicht allein um Drogensüchtige oder Wohnungslose, sagt Wandelt. „Es sind auch Menschen, die ein reguläres Leben führen, sich aber um ihre Angelegenheiten nicht ausreichend kümmern.“ Die Höhe der Geldstrafe richte sich nach Anzahl der Schwarzfahrten und der Vorbelastungen der Betroffenen. Geldstrafen werden in Tagessätzen verhängt: Ein Tagessatz entspricht einem Tag Freiheitsstrafe.

Aktuell sitzen in der JVA Essen keine Gefangene, die allein wegen Fahrens ohne Führerschein belangt worden sind.
Aktuell sitzen in der JVA Essen keine Gefangene, die allein wegen Fahrens ohne Führerschein belangt worden sind. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Schon immer sei es vorgekommen, dass Gefangene (oder ihre Angehörige) Geldstrafen nach Haftantritt zahlen und freikommen, sagt die JVA-Leiterin. Von „Freikaufen“ könne man strenggenommen nicht reden, da die Gefangenen ja nicht zu Haft verurteilt worden seien, sondern ausdrücklich zu Geldstrafen. „Tatsächlich handelt es sich um das Tilgen einer Geldstrafe.“

Kritische Stimmen wenden ein, so verpuffe die Wirkung der Strafe, womöglich sei das Strafvereitelung. Der Freiheitsfonds entgegnet: „Der Bundesgerichtshof hat 1990 in einer anderen Konstellation entschieden, dass gegen die Zahlung von Geldstrafen oder die Ablösung von Ersatzfreiheitsstrafen durch Dritte nichts einzuwenden ist.“

Anwalt: Fahren ohne Fahrschein gehört nicht ins Strafgesetzbuch

Die Wirkung der Strafe sei in diesen Fällen ohnehin gering, sagt Beate Wandelt: „Resozialisierungserfolge sind meist schwierig, wenn die Zeiten der (Ersatz-)Freiheitsstrafe nur kurz bemessen sind.“ Ob man für das Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel weiter in Haft landen könne, müsse jedoch die Politik regeln. Die schwarz-grüne Landesregierung hat dazu in ihrem Zukunftsvertrag vereinbart, „gemeinsam Maßnahmen zu prüfen, wie Straftaten wegen Fahrens ohne Fahrschein vermieden werden können“. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) will gar prüfen lassen, ob das Erschleichen von Leistungen nicht zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden sollte.

„Es wäre viel Elend beseitigt, wenn es so käme“, sagt der Essener Rechtsanwalt Karl Engels. Der Tatbestand der „Erschleichung“ sei eine rechtliche Konstruktion, die regelmäßig Menschen in prekären Lebenslagen treffe. Dabei handle es sich eher um einen bloßen Vertragsbruch. Den Freiheitsfonds sieht er als „humanitären Akt“, begleitet von einer politischen Kampagne. Auch Engels findet: „Die Forderung muss sein: Schafft den Straftatbestand ab – er ist unsozial.“