Peter Schäfer über Gewissensbisse für Pool-Besitzer, flüchtige Gas-Vorteile und die Illusion, sich ohne Opfer durch die Krise lavieren zu können.

EssenHerr Schäfer, schön warm haben Sie’s hier in der Stadtwerke-Zentrale, deutlich über 25 Grad. – Klimaanlage kaputt? Oder ist das Absicht, dass wir hier ins Schwitzen kommen?

Bis zur vergangenen Woche hatten wir unsere Klimaanlage noch an, die ist gasbetrieben, und wir wollen ja sparen. Wir schauen jetzt, wie weit wir ohne auskommen, können aber nicht ausschließen, dass wir sie wenigstens in Teillast wieder anfahren: Wenn’s in der nächsten Woche mehrere Tage über 30 Grad hat, hält man das irgendwann einfach nicht mehr aus.

Der Wirtschaftsminister hat ja auch nicht empfohlen, gar nicht mehr zu duschen. Sondern kürzer. Merken Sie als Stadtwerke schon wachsende Zurückhaltung beim Gasverbrauch?

Außerhalb der Heiz-Saison sind die Effekte dafür einfach zu klein, aber immerhin: Im April haben fast alle gesagt, diese Spar-Appelle, die sind doch Quatsch. Jetzt finden zumindest die meisten: Ja ja, sollte man eigentlich machen. Was so viel bedeutet wie: Ist doch prima, wenn’s die anderen tun.

„You‘ll never walk alone“, betont der Bundeskanzler, aber ich sehe uns ehrlich gesagt noch nicht Arm in Arm auf der Tribüne. Sie denn?

Wir müssen es doch wenigstens versuchen. Das Einsparpotenzial liegt bezogen auf den Privatsektor bei ungefähr 40 Prozent. Selbst wenn wir nur 20 holen, ist das schon viel wert. Ich kann doch nicht sagen: Die Leute machen es ja eh nicht.

„Wer heute seinen Swimmingpool beheizt, hat ein schlechtes Gewissen zu haben“

Sie sind ein Optimist. So wie beim Montags-Appell an die WG-Mitglieder, sich im Bierkonsum zurückzuhalten, damit der Stoff bis nächste Woche reicht. Und dann ist am Mittwoch schon der Kühlschrank leer.

Meine Sache ist es, bei den Leuten ein Bewusstsein zu schaffen: Dass man erstens stolz darauf sein kann, weniger Erdgas zu verbrauchen, und zweitens ein schlechtes Gewissen haben sollte, wenn’s einem nicht gelingt.

Die hitzige Atmosphäre im Interview – Ausfluss der einstweilen abgestellten gasbetriebenen Klimaanlage bei den Stadtwerken.
Die hitzige Atmosphäre im Interview – Ausfluss der einstweilen abgestellten gasbetriebenen Klimaanlage bei den Stadtwerken. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Einer der Beweggründe fürs Sparen heißt landläufig: Sie tun auch was für Ihr eigenes Portemonnaie! Es dürfte aber eine Menge Leute geben, die sagen: Na und? Ich kann‘s mir leisten.

Genau, deswegen versuche ich auch nicht, so zu argumentieren. Ich appelliere an die Solidarität, denn dort sind all jene, die viel Geld haben, genauso gefordert. Wenn heute einer seinen Swimmingpool beheizt, ist das einfach unsolidarisch, Punkt. Der hat ein schlechtes Gewissen zu haben. Er muss sich nicht schämen für die Vergangenheit und kann das ja meinetwegen in zwei, drei Jahren wieder machen, wenn die Lage sich entspannt hat. Aber erst dann.

Als Chef nicht gerade kleiner Stadtwerke sind Sie bis heute einer der wenigen in der Branche, die klar vor einer dramatischen Krise warnen und Sparappelle formulieren. Das macht sie zum gefragten Gesprächspartner von der „Welt“ bis zu den „tagesthemen“. Andere ducken sich weg. Warum eigentlich?

In der Gas-Wirtschaft sind wir seit vielen Jahren darauf gedrillt, die Vorzüge unseres Energieträgers zu preisen: Erdgas ist erstens umweltfreundlich, zweitens preiswürdig und drittens versorgungssicher – das sind die Hauptargumente der letzten 50 Jahre Erdgas-Geschichte. Heute wissen wir: Auf lange Sicht ist Erdgas erstens doch nicht so umweltfreundlich, wie es sein sollte. Zweitens stieg der Ölpreis binnen zwei Jahren auf das Zweieinhalbfache, während wir beim Gas von einem Faktor 6 bis 8 reden. Und nun ist drittens auch die Versorgungssicherheit in Frage gestellt. Da fühlt unsereins sich sowieso gerade total unwohl in seiner Haut. Und jetzt sollen wir auch noch hingehen und den Leuten sagen: Verbraucht mal nicht so viel davon!

„Man muss die Menschen sensibilisieren. Es ist nicht meine Triebfeder, beliebt zu sein“

Man macht sich so jedenfalls nicht beliebter als Stadtwerke-Chef.

Ganz ehrlich: Es ist nicht meine Triebfeder, beliebt zu sein. Ich male mal bewusst schwarz: Wenn wir uns jetzt nicht disziplinieren, wenn wir einfach weitermachen wie bisher, und jeder kümmert sich in dieser Krise nur um sich selbst, dann geht im Falle eines echten Gasmangels als erstes die Industrie kaputt. Wenn wir dann noch ein bisschen Pech haben, und irgendwo in Norwegen fällt eine Förderplattform aus, fangen wir an, ganze Städte abzuschalten und Wärme-Notinseln in der Stadt aufzubauen.

Wie realistisch ist dieses Szenario?

Die Wahrscheinlichkeit, dass das hier in Essen so weit kommt, ist nicht besonders hoch, aber was ist mit anderen Teilen Deutschlands? Im Süden? Und im Osten, weil es Netzstellen gibt, die besonders viel Russengas nutzen? Sollten wir dann in so einer katastrophenähnlichen Situation stecken – wie soll ich dann mit mir umgehen: Ich hab‘s eigentlich gewusst, wollt’s aber nicht sagen, damit ich mich nicht unbeliebt mache?

Es erinnert an dieses Bonmot des einstigen Innenministers Thomas de Maizière: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ Angst mag ein schlechter Ratgeber sein, aber ein bisschen Muffensausen täte uns allen gut, verstehe ich Sie da richtig?

Ich bin unsicher, wie man das formulieren sollte, aber klar ist doch dies: Man muss die Menschen sensibilisieren, dass es hart werden kann, wenn die Gaslieferungen aus Russland auf so niedrigem Niveau verharren sollten und ein strenger Winter kommt. Mit Kinkerlitzchen werden wir das nicht wuppen…

„Minimale Verhaltensveränderungen reichen nicht, es braucht den Komfort-Verzicht“

…Sie meinen Stoßlüften statt Fenster auf Kipp...

...das sind Maßnahmen, die klingen nach: Wie kommen wir mit minimalen Verhaltensveränderungen ohne jeden Komfort-Verlust durch die nächste Zeit? Ich sage: Das reicht nicht. Wir müssen den Komfort-Verzicht eingehen. Natürlich gilt es auch, andere Potenziale zu nutzen, es mag schlecht eingestellte Heizungen geben, aber am meisten kann ich eben dadurch sparen, dass ich in der kalten Jahreszeit weniger heize, einen Pullover anziehe und sage: Ich komme auch mit 18 Grad durch den Winter. Im Altenheim würde ich das natürlich nicht machen, auch nicht im Kindergarten…

…aber bei den Stadtwerken zum Beispiel, das haben Sie ja schon angekündigt. Währenddessen bemüht sich ein Großteil der Politik darum, die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Status als „geschützte Kunden“ nach den Buchstaben des Energiewirtschaftsgesetzes zu beruhigen. Motto: Euch kann nichts passieren.

Totaler Unsinn! Entweder ist die Aussage dumm oder verantwortungslos oder beides.

Weil...

...bei manchen Leuten offenbar das physikalische Grundverständnis fehlt. Wenn das System im Extremfall leerläuft, weil dauerhaft mehr verbraucht wird, als nachkommt, ist irgendwann nichts mehr da. Da kann ich die Privathaushalte 100 Mal als geschützt definieren.

Bei Ruhrgas galt: Wenn ein Lieferant ausfällt, kommen wir trotzdem irgendwie durch

Irritiert Sie auch die Nonchalance, mit der „nicht geschützte“ Industrie-Kunden behandelt werden? Fährt ein Betrieb mit 500 Beschäftigten vor die Wand, entsteht ja schließlich so etwas wie – darf man Sprengstoff sagen?

Na ja sicher. Man kann das fortspinnen: Wenn die nächste Corona-Mutation kommt und wir passenden Impfstoff haben, den aber nicht verabreichen können, weil die Glashütte aufgeben musste und das Glas für die Ampullen fehlt. Ich will jetzt nicht krampfhaft einen Zusammenhang zwischen Corona und Energiekrise herstellen, aber was die Industrie erzeugt, ist ja überwiegend notwendig für unser Leben und nicht alles Unsinn, von dem man sagen könnte: Wenn sie es weglassen, geht es genauso gut weiter.

Sie lehnen sich als Stadtwerke-Chef dieser Tage weit aus dem Fenster. Wären Sie derzeit gerne in der Politik?

Ja, weil mich das alles umtreibt.

„Wenn das System im Extremfall leerläuft, weil dauerhaft mehr verbraucht wird, als nachkommt, ist irgendwann nichts mehr da. Da kann ich die Privathaushalte 100 Mal als geschützt definieren“, sagt Stadtwerke-Chef Peter Schäfer.
„Wenn das System im Extremfall leerläuft, weil dauerhaft mehr verbraucht wird, als nachkommt, ist irgendwann nichts mehr da. Da kann ich die Privathaushalte 100 Mal als geschützt definieren“, sagt Stadtwerke-Chef Peter Schäfer. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Was uns vom bedrohlichen Ende wieder zurück an den Anfang führt. Wann ist hier eigentlich was gehörig schiefgelaufen?

Wenn man weit ausholt, könnte man bis zur alten Ruhrgas zurückgehen, bei der ich beruflich groß geworden bin. Die hat früher die Verantwortung für die Versorgungssicherheit als ihre Aufgabe begriffen. Der Lieferanteil von russischem Erdgas lag damals immer um die 30 Prozent, eher leicht darunter. Das übrige Gas stammte aus Norwegen, Holland und Deutschland, und hinzu kam ganz wenig verflüssigtes LNG-Gas. Das alles war immer so austariert, dass man sagte: Wenn einer von denen ausfällt, kommen wir trotzdem irgendwie durch.

„Es war das ungeschriebene Gesetz, dass die Politik sich raushält“ – bis letzten Herbst

Dann kam die Liberalisierung...

...die den totalen Wettbewerb entfachen sollte, was bei drei relevanten Lieferanten oder Produzenten schon von der Theorie her gar nicht aufgehen kann, jedenfalls nicht, was Deutschland angeht. Damit war leider auch die Verantwortung für die Versorgungssicherheit bei niemandem mehr geparkt.

Aber es gab ja Gasspeicher.

Die wurden früher – eigentlich eine Trivialität – zum Winteranfang vollgemacht und so gefahren, dass die Gasmenge bis zum Ende des Winters reichte. Heute werden die Speicher vorzugsweise nicht betrieben, um kalte Winter zu überstehen, sondern um die teuersten Tage zu treffen, damit sich der Gaspreis ausgleichen lässt. Und wenn das Gas im nächsten Sommer nicht besonders preiswert ist, sieht sich der Händler nicht motiviert, den Speicher vollzumachen, er sagt: Dann warte ich halt noch ein Jahr. Die Versorgungssicherheit tritt in den Hintergrund, das ist ein Manko des Systems.

War es nicht auch ein Manko des Systems, sich in diesem Ausmaß an nur einen Lieferanten zu hängen?

Dass Uniper quasi als Rechtsnachfolger der alten Ruhrgas jetzt selber einen Anteil von über 50 Prozent Russen-Gas hat, da könnte man im Nachhinein vielleicht sagen: Da hätte man besser aufpassen sollen. Aber es hat halt immer funktioniert. Gleich in welcher Krise, der Gashahn blieb stets geöffnet, und es war das ungeschriebene Gesetz, dass die Politik sich raushält. Bis sie sich im letzten Herbst das erste Mal eingemischt hat und die Genehmigung der neuen Pipeline Nord Stream 2 untersagt hat. Damit ging der Konflikt erst richtig los.

Als der Gasspeicher in Rheden nicht gefüllt wurde, schwante Insidern das Unheil

Würden Sie so weit gehen zu sagen: Wenn das so nicht passiert wäre, hätten wir diese ganze Situation nicht?

Ganz sicher ist das so. Die untersagte Inbetriebnahme von Nord Stream 2 war ein politisches Instrument. Das beantwortet gleichwohl nicht die Frage, ob dieser Schritt richtig oder falsch war.

Wann haben Sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass Unheil droht?

Das war im Sommer 2021, als deutlich wurde, dass der Gazprom-Speicher in Rehden nicht gefüllt wird. Da wussten die Insider schon: Es braut sich was zusammen.

Hatten Sie damals eine Ahnung, was das im Detail sein konnte?

Das wusste keiner so ganz genau. Ich hatte den Eindruck, es ist ein Instrument, um die Freigabe von Nord Stream 2 durchzudrücken. Motto: Gebt einfach die neue Pipeline frei, die ist groß genug, dann kommt ihr auch ohne Speicher Rheden durch den Winter. Es war jedenfalls klar, es läuft auf einen Konflikt hinaus.

Die umstrittene Gasförderung per „Fracking“ erwägen? Ein „Zeichen der Verzweiflung“

Wann haben Sie diesen konsequent zu Ende gedacht – bis hin zu den Wärmestuben?

Dass ich der Meinung war, wir könnten in eine echte Versorgungskrise geraten – das war im Dezember der Fall. Da habe ich auch den Oberbürgermeister informiert, und der schrieb dann einen Brief an die Landesregierung: Achtung, da braut sich was zusammen! Die Speicherstände waren da schon auf einem unterdurchschnittlichen Niveau. Wäre im Dezember ein extrem kalter Winter losgegangen, wir wären schon im Frühjahr in eine kritische Situation gekommen. Dabei sind wir anfangs noch belächelt worden, was wir da in Essen für einen Blödsinn veranstalten. Auch von Kollegen aus Ihrer Branche.

Heute ist allen Beteiligten das Lachen vergangen. Wir drehen Heizungen zurück, schmieden Notfallpläne, reaktivieren Kohle- und vielleicht auch Kernkraftwerke, und selbst „Fracking“, also der mittelfristige Blick auf die Gewinnung von Schiefergas scheint für manchen kein Tabu mehr.

Ich glaube dennoch, dass diese Fracking-Diskussion uns nicht wirklich weiterhilft. Sie ist vielleicht nur ein Zeichen für die Verzweiflung, nach jedem Strohhalm zu greifen, der uns aus der misslichen Lage hilft. Nichts, was uns schnell viel bringt. Das schafft nur der Pullover.

Das Gespräch mit Peter Schäfer führte Wolfgang Kintscher