Essen. Rund 90.000 Essener Erdgas-Kunden müssen sich wappnen für den Preisschock: Die Stadtwerke denken an eine erste Erhöhungswelle schon ab Oktober.
Sein Blick auf den Gaspreis von morgen ist ein Blick auf drei zittrige Datenkurven in Blau, Rot und Grün. Die türmen sich in einem kleinen Diagramm zur Silhouette eines Schweizerischen Bergmassivs auf, wobei Peter Schäfer noch gar nicht sagen kann, ob der Gipfel schon hinter oder vielleicht doch erst noch vor ihm liegt. Es ist die blaue Linie, die dem Essener Stadtwerke-Chef am meisten Sorgen bereitet, denn sie zeigt, zu welchem Preis die Stadtwerke in diesen Tagen die letzten noch fehlenden Gasmengen für 2023 einkaufen. Er liegt so hoch, dass man ahnt: Nicht wenige der 90.000 Essener Erdgas-Kunden werden im kommenden Jahr wohl Urlaub nur auf Sparflamme machen. Wenn überhaupt.
Denn zum 1. Januar sehen sich die Stadtwerke gezwungen, den Erdgas-Preis für Bestandskunden von derzeit rund 7 Cent pro Kilowattstunde in etwa zu verdoppeln. Sie haben das in der Zentrale an der Rü durchgerechnet, angesichts nie dagewesener Beschaffungskosten geht es nicht anders, heißt es.
Wie der Gaspreis sich zusammensetzt
Wie viele russische Erdgas-Moleküle in Essener Gasheizungen verbrannt werden – so genau weiß das auf Anhieb niemand. Denn die Gelsenwasser AG, die in einer Beschaffungs-Kooperation mit den hiesigen Stadtwerken die Gas-Kontrakte vornimmt, ist nur der letzte einer Handvoll Zwischenhändler, die in die Versorgung eingebunden sind.
Bei der Bundesnetzagentur lässt sich auf der Internetseite verfolgen, zu welchen Kursen das Erdgas in diesen Tagen gehandelt wird, aber Obacht: Dort sind nur die Großhandelspreise aufgeführt, die vor der Gaskrise auf einem Niveau von etwa 20 Euro je Megawattstunde lagen, das entspricht einem Preis von 2 Cent pro Kilowattstunde.
Nur etwa 28 Prozent des Erdgas-Preises, den die Privatkunden zu zahlen hatten, machte bis dato dieser Großhandelspreis aus. Hinzu kamen noch 1 Cent für Vertrieb und Abrechnung (ein Anteil von 14 %), 1,46 Cent für die Netznutzungsentgelte (21 %), 0,40 Cent für die Konzessionsabgabe (5 %), 0,55 Cent Erdgassteuer und ein gleich hoher Betrag als CO2-Abgabe (jeweils 8 %) sowie 1,13 Cent Umsatzsteuer (16 %). Zusammen ergab das einen Preis von 7,09 Cent je Kilowattstunde.
Im Zuge der Gas-Krise vervielfachten sich die Großhandelspreise. Wenn sie sich aber wie neulich auf 120 Euro pro Megawattstunde (= 12 Cent je Kilowattstunde) versechsfachten (mittlerweile liegen sie längst darüber), bedeutet das aber nicht gleichzeitig auch eine Versechsfachung des Gaspreises für die Privatkunden von 7,09 auf über 42 Cent. Der Grund: Bis auf die Umsatzsteuer, die auf 3,03 Cent anwächst, steigen die anderen Preis-Bestandteile nicht mit. Heraus käme deshalb „nur“ ein Endpreis von 18,99 Cent pro Kilowattstunde, der Anteil des Großhandelspreises am Endpreis klettert damit von 28 auf 63 Prozent.
In der Kalkulation für 2023 sind noch preiswertere Bestell-Chargen enthalten
Doppelter Preis, das wären dann 14 Cent je Kilowattstunde, die ihre niedliche Harmlosigkeit verlieren, wenn man sie auf die klassischen Durchschnittsverbräuche anwendet. Die beiden Vergleichsportale Check24 und Verivox etwa rechnen unisono bei einer 50-Quadratmeter-Wohnung mit einem Verbrauch von 5000 Kilowattstunden pro Jahr, bei 100 Quadratmeter werden 12.000 Kilowattstunden unterstellt, für ein Eigenheim von 150 Quadratmetern 18.000.
Was bedeutet: In den Beispiel-Haushalten werden schon in der 50-Quadratmeter-Single-Bude pro Jahr 350 Euro mehr fällig, bei 100 Quadratmetern sind es schon 840 Euro, bei 150 qm 1260 Euro. Und das ist erst das Vorgeplänkel des anstehenden Preisschocks, denn da die Essener Stadtwerke sich das Gas für ihre Kundschaft stets mit einem Vorlauf von etwa zwei Jahren am Markt sichern, sind in die Kalkulation fürs kommende Jahr noch zu einem beachtlichen Teil deutlich preiswertere Bestell-Chargen aus Vorkrisen-Zeiten eingeflossen.
Die Umlage zur Rettung von Gaslieferant Uniper kommt beim Preis noch „on top“
Solche dämpfenden Effekte gibt es beim Gaspreis für 2024 dagegen kaum oder gar nicht mehr. Stattdessen schlägt dort der Krisenpreis voll durch. „Hätten wir für 2023 noch nichts eingekauft, müssten wir aktuell einen Preis von etwa 20 Cent pro Kilowattstunde veranschlagen“, sagt Schäfer. Für die drei erwähnten Haushaltsgrößen (50, 100 und 150 Quadratmeter) würde dies dann jährliche Mehrkosten von 650, 1560 oder 2340 Euro bedeuten. Eine Verdreifachung des Tarifs, die manche Kundinnen und Kunden an ihre finanzielle Grenze brächte – und Verbrauchs-Ausreißer in besonders schlecht gedämmten Wohnungen noch nicht einmal berücksichtigt.
Dabei kommt es noch dicker: Um den angeschlagenen Gas-Beschaffer Uniper und viele nachgeordnete Unternehmen vor einem finanziellen Desaster bis hin zur Pleite zu retten, ist voraussichtlich ab Herbst von allen Gaskunden noch eine Umlage zu berappen. Bundeskanzler Olaf Scholz taxierte diese jüngst auf etwa zwei Cent pro Kilowattstunde. „Die sind in unseren Preisen noch nicht enthalten, sondern kämen ,on top‘“, seufzt Stadtwerke-Chef Schäfer.
„Ein frühzeitiges Preissignal, das weh tut“ soll das Bewusstsein für die Lage schärfen
Noch einmal plus 100, plus 240, plus 360 Euro zusätzlich, vermutlich ab Herbst – in seinen Worten schwingt hörbares Bedauern mit. Schäfer gehört zu den Wenigen in der Branche, die dieser Tage eindringliche Spar-Appelle an die Erdgas-Kunden richten – und will es bei Worten nicht belassen. Stattdessen möchte er diese gern mit einem „Preissignal“ unterfüttern. Sprich: Die Stadtwerke überlegen, ihre Gastarife nicht erst im Januar und damit mitten in der Heizperiode höherzuschrauben, sondern womöglich schon im Oktober, vielleicht zeitgleich mit der Umlage zur Uniper-Rettung.
„Ein frühzeitiges Preissignal, das weh tut“ schwebt Schäfer da vor – nicht, damit die Stadtwerke mehr Geld verdienen, „das ist gar nicht unser Ziel“, sondern um ein Bewusstsein für die dramatische Versorgungslage zu schaffen und die Kundschaft auf höhere Tarife einzustimmen. „Es wäre doch“, so der Vorstandschef, „idiotisch zu wissen, dass irgendwann eine Verdreifachung des Gaspreises bevorsteht, aber wir halten möglichst lange das niedrige Niveau“.
Für Stadtwerke-Chef Schäfer geht es nicht nur ums Geld, sondern auch um Solidarität
Drei Monate früher, aber dafür deutlich moderater den Preis zu erhöhen, könne da eine Lösung sein. Zahlen mögen die Stadtwerke derzeit nicht nennen, „wir rechnen noch“, heißt es. Sollte man sich für diese Variante entscheiden, müssten die Stadtwerke die neuen Tarife im August offiziell bekanntgeben.
Schäfer räumt dabei ein, dass ihn nicht nur im Sinne der Kundschaft die Sorge um deren Geldbeutel umtreibt. Sondern auch der Gedanke, dem Gassparen als gemeinsamen Akt der Solidarität ein bisschen nachzuhelfen. Weil der Status als „geschützte Kunden“ in falscher Sicherheit wiege und eine Gasmangellage womöglich dramatische Auswirkungen haben dürfte – am Ende auch auf die Privatverbraucher.
„Das alte Preisniveau werden wir auf absehbare Zeit vermutlich nicht mehr sehen“
Und sein Diagramm? Wenn schon die blaue Linie mit den Gaspreisen für 2023 lichte Höhen erklimmt – was ist mit der roten und der grünen? Die eine steht für die Preiserwartung für 2024 und liegt fast um die Hälfte unter den 2023er Preisen, die andere für 2025 noch einmal spürbar darunter. Sieht dann doch fast so aus, als hätten die Gaskunden das Schlimmste bald hinter sich, oder?
„Das wäre eine sehr mutige Interpretation“, bremst Schäfer die Euphorie, denn die Daten bildeten ja nur die tagesaktuellen Erwartungen der Gashändler ab. Und die korrigierten sich schon am Montag nach kurzem Abschwung wieder mal spürbar nach oben: weil der russische Gas-Lieferant Gazprom ankündigte, ab Mittwoch statt 40 nur noch 20 Prozent der maximalen Menge durch die Pipeline Nord Stream 1 zu leiten.
Nein, alles bleibt unsicher, und für Schäfer nur eines gewiss: Sieben Cent je Kilowattstunde, „dieses alte Preisniveau werden wir auf absehbare Zeit vermutlich nicht mehr sehen“.