Essen. Ob Flut, Cyber-Angriff oder Terroranschlag: In der Krise wird oft improvisiert, jetzt gibt’s einen Plan. Der scheint mehr wert, als viele denken.
Das letzte Spiel der Lieblings-Kicker, der Stau auf dem Nachhauseweg, und dass es im Supermarkt gestern Abend keine Grillwürstchen mehr gab: eine einzige Katastrophe! So inflationär wird dieser Begriff genutzt, dass mitunter das Gefühl für die wirklichen Krisen im Alltag abhanden kommt: Hitzewellen und Hochwasser, ein langanhaltender Stromausfall oder ein Terroranschlag, kein Erdgas-Nachschub im Winter oder stadtweit lahmgelegte Computersysteme. Wie gut ist die Stadt Essen darauf vorbereitet? Diese Frage beantwortet ein kürzlich vorgelegter Katastrophenschutz-Bedarfsplan, und sagen wir mal so: Ein Teil der Antwort könnte die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt arg verunsichern.
Denn in dem simplen Ampel-Schema, mit dem das 170-Seiten-Papier den Grad der hiesigen Vorbereitung signalisiert, schimmert es nur an den allerwenigsten Stellen grün, weil die Stadt Essen dort auf ein „weitgehend funktionierendes System" zurückgreifen kann. Dazwischen: viel Rot, viel Gelb und Rot-Gelb-Schraffur, was unterm Strich bedeutet: Für Katastrophen größeren Ausmaßes sind die Notfall-Systeme zwischen Karnap und Kettwig nur unzureichend ausgelegt, oft fehlt es gar an Grundlagen, um die Krisen meistern zu können.
Ein Plan – und wie es nun weitergeht
Um den Katastrophenschutz auf Vordermann zu bringen, führt das Planwerk einen Katalog mit 73 Maßnahmen an, die nun abgearbeitet werden müssen.
Höchste Priorität hat dabei die Leistungsfähigkeit der „Untere Katastrophenschutzbehörde“, die entsprechend personell aufgestockt werden soll.
Einmal jährlich will die Stadt Zwischenbilanz ziehen und notfalls „den Plan der Realität anpassen“, wie es heißt. Nach fünf Jahren soll der Plan grundlegend fortgeschrieben werden.
Vorbeugend Alarm zu schlagen, war lange Zeit einigermaßen unpopulär
Dabei hat die Stadt sich gemeinsam mit Lülf+ Sicherheitsberatung GmbH aus Viersen aus einem bunten Strauß von 18 Katastrophen-Szenarien nur jenen fünf Risiken ausführlich gewidmet, die man für einigermaßen wahrscheinlich und – angesichts der erwartbaren Schäden – für hochproblematisch hält: eine extreme Hitzewelle, einen langanhaltenden flächendeckenden Stromausfall, eine Explosion etwa durch einen Terroranschlag, eine Versorgungsmangellage und ein Hochwasser-/Starkregen-Ereignis.
Für solche Eventualitäten vorbeugend Alarm zu schlagen, war lange Zeit einigermaßen unpopulär: Christian Kromberg, für Ordnung und Sicherheit zuständiger Dezernent im städtischen Verwaltungsvorstand, erinnert sich noch gut, wie die Republik sich bei vorgestellten Zivilschutz-Plänen vor ein paar Jahren noch lustig machte. Inzwischen scheint das Bewusstsein für existenzielle Krisen, in die eine Stadt schlittern kann – der Bedarfsplan kommt mit dem englischen Begriff „Awareness“ –, sprunghaft gewachsen. Zyniker könnten sagen: Erst die Katastrophen andernorts haben hier den Boden für die Krisenvorsorge bereitet.
„Wir haben deutliche Defizite, ja, aber wir können auf hohem Niveau improvisieren“
Hitzewelle, Strom-Blackout, Flut und Cyber-Angriffe – alles ist schließlich schon mal da gewesen. Jetzt kommt die Angst vor dem Krieg dazu oder genauer: die Angst vor Folgen einer zugespitzten geopolitischen Lage. Wo die Erdgas-Heizung im Winter mangels Erdgas den Geist aufgeben könnte, wo die Kosten für Benzin in die Höhe schnellen und der Firnis des zivilisierten Umgangs womöglich dem Recht des Stärkeren weicht, wenn’s nicht für alle reicht. Hatte es im Supermarkt nicht schon Kloppereien um Klo-Papier gegeben?
Gewappnet zu sein, ist das A und O. Und dass der Bedarfsplan viele Lücken im Essener System entlarvt, scheint für Kromberg kein Problem, sondern fast Sinn der Sache: „Vor die Lage“ zu kommen, das war der Plan. Zu handeln, statt nur zu reagieren. Der vielen Rot-Lichter im Planwerk wegen, ist dem Ordnungsdezernenten nicht unbedingt bang: „Wir haben deutliche Defizite, ja, aber wir können auf hohem Niveau improvisieren.“ Da dies aber fehleranfällig wäre, gelte es jetzt, Vorbereitungen zu treffen.
Viele Vorbereitungen haben auch ein Preisschild: Planstellen, Fahrzeuge, Bauten
Es geht da bei weitem nicht nur um die eigentliche Gefahrenabwehr oder technische Hilfeleistung, um Sanitäts- und Rettungsdienst. Sondern auch um die Logistik im Krisenfall, um die Frage, wer wann und wo das Sagen hat, wie man informiert, organisiert, die betroffene Bevölkerung betreut. Einiges lässt sich mit Bordmitteln machen und mit dem Mut, für den Fall des Falles Entscheidungen zu treffen.
Aber viele Vorbereitungen haben auch ein Preisschild: Planstellen, Fahrzeuge, Sondertechnik, Bauten. Kromberg mag keine Zahlen nennen, der Bedarfsplan dringt so weit ins Detail auch gar nicht vor. Und ohnehin schwanken in der aktuellen Lage ohnehin die Preise: Wenn Städte landauf landab sich für Krisenfälle wappnen, entstehen Engpässe. Fahrzeuge, die man heute bestellt, kommen frühestens 2025, und ohne Preisgleitklauseln, so heißt es, geht derzeit gar nichts.
13 Euro Schaden pro Einwohner und Stunde bei einem längeren Stromausfall
Investitionen, die sich dennoch lohnen, glaubt der Ordnungsdezernent. So führt der Katastrophen-Bedarfsplan eine Studie des Hamburger Weltwirtschafts-Instituts von 2013 an, die den wirtschaftlichen Schaden eines längeren Stromausfalls in Düsseldorf mit 13 Euro pro Einwohner und Stunde beziffert. Ein siebentägiger Blackout in Essen würde damit schätzungsweise 1,2 Milliarden Euro Schaden auslösen.
Oder eine Cyber-Angriff auf die städtischen IT-Systeme: Acht Monate dauerte es, bis die Kreisverwaltung Anhalt-Bitterfeld eine Hacker-Attacke in den Griff bekam. Wenn’s passiert, sind auch heikle Verwaltungsprozesse betroffen wie etwa die Auszahlung von Arbeitslosengeld 2 oder kritische Infrastrukturen.
Abgestufte Notfahrpläne für die Ruhrbahn und Notunterkünfte für 5900 Menschen
Und je tiefer man eintaucht, desto mehr gibt es zu bedenken: abgestufte Notfahrpläne für die Ruhrbahn, weil es an Treibstoff mangelt; ausgefallene Klimaanlagen auf den Intensivstationen großer Krankenhäuser; Personal, das im Rettungsdienst oder in der sogenannten Kritischen Infrastruktur arbeitet und nicht weiß, wohin mit den Kindern. Und wo sich 5900 Essenerinnen und Essener – ein Prozent der Bevölkerung – bei einem sogenannten radiologisch-nuklearen Zwischenfall mindestens über einen Zeitraum von einem Monat unterbringen ließen, hat auch noch keiner festgelegt.
Man kann sich verlieren in den Katastrophen-Szenarien, bei denen die Stadt auch mit der Frage hantiert, was denn bei einer Explosion in der Verteiler-Ebene der U-Bahn-Station Berliner Platz zu tun wäre. Welche Schäden „Sommerfrost“ anrichtet und wie viele Kontaminierte der Einsatz giftigen Senfgases („S-Lost“) auslösen kann.
Keine Entwarnung? Nirgends? Seite 47 von 170: „Das Szenario Waldbrand besitzt im Stadtgebiet Essen nach Ansicht der Expertinnen und Experten nicht die Komplexität einer Katastrophe.“ Na immerhin.