Essen. Schon 2021 erlebte das Stadtdekanat Essen einen Negativrekord an Kirchenaustritten. 2022 könnte es noch schlimmer werden.

Die dramatische Talfahrt der katholischen Kirche in Essen, setzt sich auch im laufenden Jahr fort. In den ersten sechs Monaten sind bereits rund 1800 Gläubige ausgetreten – fast schon so viele im gesamten Jahr 2019. Setzt sich der Abwärtstrend der vergangenen Monate in der zweiten Jahreshälfte 2022 mit derselben Wucht fort, steuert das Stadtdekanat Essen auf einen neuen Negativrekord zu. Bereits im vergangenen Jahr ist die katholische Kirche durch den Höchstwert von rund 2500 Austritten erschüttert worden.

Zwar trifft die Austrittswelle die evangelische Kirche längst nicht so hart, aber auch hier gehen die Zahlen nach unten. In den ersten sechs Monaten haben mehr als 920 evangelische Christen in Essen die Kirche verlassen.

In den ersten sechs Monaten 2022 sind schon 2730 Essener Christen ausgetreten

Die aktuellen Austrittszahlen für 2022 ergeben sich aus einer Umfrage dieser Zeitung bei den drei Amtsgerichten Essen-Mitte, Borbeck und Steele. Unterm Strich haben danach in den ersten sechs Monaten schon 2730 Christen der Kirche den Rücken gekehrt. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2021 waren es zusammen 4145.

Allein der Blick auf das Amtsgericht Essen-Mitte verdeutlicht, dass die Austrittszahlen bei der katholischen Kirche in der ersten Jahreshälfte Monat für Monat anhaltend hoch waren. Hier die monatliche Übersicht: Januar 215 Austritte; Februar 272; März 200; April 206; Mai 233 und Juni 93 (bis einschließlich 27. 6.). Von 1800 Austritten entfallen allein 1219 auf den Amtsgerichtsbezirk Essen-Mitte. Zum Vergleich die Monatszahlen 2022 bei der evangelischen Kirche: Januar 134; Februar 125; März 151; April 103; Mai 109 und Juni 73 – macht in der Summe 695 Austritte.

Ruhrbistum sieht Missbrauchsfälle als Auslöser der dramatischen Austrittswelle

Das Amtsgericht Borbeck verzeichnet insgesamt 294 Austritte zwischen Januar und Mai 2022, davon waren 200 katholisch und 91 evangelisch. Weitere 51 Austritte im Juni 2022 entfallen auf beide Konfessionen.

Die 472 Austritte beim Amtsgericht Steele zwischen Januar und Juli 2022 verteilen sich auf 335 Katholiken und 137 evangelische Christen. Zum Vergleich: Im gesamten letzten Jahr registrierte das Amtsgericht Steele 590, davon allein 383 Katholiken.

Wie rasant die Austrittszahlen im Stadtdekanat Essen in die Höhe geschnellt sind, zeigt der Zehn-Jahres-Vergleich: 2010 verließen nach Angaben des Ruhrbistums 1340 Essener Katholiken die Kirche, 2020 waren es 1508 und 2021 bereits 2469.

Die Gründe für die besorgniserregende Austrittswelle liegen für die Kirchenoberen im Ruhrbistum auf der Hand. Der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer sieht in der Austrittswelle das klare Zeichen „eines schier unaufhaltsam steigenden Vertrauensverlustes der katholischen Kirche“, den vor allem die schrecklichen Missbrauchstaten von Priestern und anderen kirchlichen Mitarbeitern ausgelöst hätten. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck sprach Anfang dieses Jahres nach der Veröffentlichung des Münchener Missbrauchsgutachtens unverhohlen von einer „Existenzkrise der Kirche“.

Wer in Essen austreten will, muss rund zwei Monate Wartezeit in Kauf nehmen

Das Ruhrbistum hat im letzten Jahr 20.885 Mitglieder verloren und ist auf 700.000 Gläubige geschrumpft. 2010 zählte es noch 850.000. Der Verlust von 150.000 Gläubigen entspricht der Größe einer Großstadt wie Hagen. Auch im Stadtdekanat Essen ist die Zahl der Gläubigen rapide gesunken – auf 177.673 Ende 2021.

Wer sich entscheidet, der Kirche den Rücken zu kehren, darf nicht davon ausgehen, rasch einen Termin in einem der Essener Amtsgerichte zu bekommen. Die Wartezeit beträgt derzeit rund zwei Monate. Die meisten Bürger nutzen die Möglichkeit der Online-Terminvergabe, die im monatlichen Rhythmus erfolgt. Wer am 1. Juli einen Termin bucht, ist frühestens im September an der Reihe. „Die meisten Antragsteller möchten gerne sofort austreten, aber sie müssen sich leider gedulden“, heißt es in einem Amtsgericht.

Wer austritt und das Formular ausfüllt, wird im Amtsgericht nicht nach seinen Beweggründen befragt. Doch viele, insbesondere Katholiken, schütten ihr Herz trotzdem aus. „Die Verärgerung über die Missbrauchsfälle ist enorm“, heißt es.