Essen. In einem Musterfall rückt das Oberverwaltungsgericht von seiner alten Linie bei Gebühren-Kalkulationen ab. Die Bürger profitieren aber erst 2023.
In Zeiten, in denen alles immer teurer wird, kommt diese Nachricht wohl wie gerufen: Die Abwasser-Gebühren in Essen dürften vom nächsten Jahr an spürbar sinken. Zu verdanken haben dies die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt einem hartnäckigen Kläger aus Oer-Erkenschwick – und dem Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster, das nach beinahe 30 Jahren von einer alten Rechtsmeinung abrückt.
Im Mittelpunkt: Ein Streit um jene Kosten, die in der einst bedeutenden westfälischen Bergbaustadt anno 2017 für Schmutz- und Niederschlagswasser zu berappen waren. Aber Oer-Erkenschwick, so könnte man formulieren, ist überall, denn auch in Essen und anderswo kalkulierten die Rathäuser ihre Entwässerungs-Gebühren nach dem gleichen Muster. Und so blickte man mit einem Auge auch hier immer auf das Verfahren, das beachtliche fünf Jahre vor sich hin plätscherte.
Der Kläger aus Oer-Erkenschwick verlor 2020 in erster Instanz – ließ aber nicht locker
2020 schien es bereits entschieden: Da schlug sich das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen auf die Seite der Stadt und wies die Klage ab. Zum Glück für Grundstückseigentümer und Mieter NRW-weit ließ der Kläger damals nicht locker und ging in Berufung. Mit Erfolg: Der 9. Senat des OVG gab ihm in diesem Musterverfahren am Dienstag Recht und befand, wer die Abwasser-Preise so kalkuliere wie es über Jahre und Jahrzehnte geübte Praxis war, der knöpfe den Gebührenzahlern schlicht zu viel Geld ab.
Der Grund? Jetzt wird’s kompliziert: Berechnet wurden die Gebühren so, dass einerseits die anteiligen Kosten („Abschreibung“) für neue Entwässerungsanlagen mit ihrem Wiederbeschaffungszeitwert veranschlagt wurden, also jenem Betrag, den man aufwenden müsste, um ein Kanalnetz gleicher Art und Güte zu errichten. Und andererseits wurde das Anlagevermögen mit dem Nominalzinssatz – einschließlich Inflationsrate – kalkulatorisch verzinst.
Ein allzu üppiger Schluck aus der Pulle, fand jetzt das Oberverwaltungsgericht
Auf diese Weise, so befand das Gericht jetzt, wird die Inflation gleich doppelt ausgeglichen. Das sei zwar betriebswirtschaftlich vertretbar, durch die Gemeindeordnung aber nicht gedeckt, weil dort nur die dauerhafte Betriebsfähigkeit der öffentlichen Einrichtung der Abwasserbeseitigung gefordert ist. Und noch einen anderen Punkt kritisierten die Richter: Die Stadt Oer-Erkenschwick – wie übrigens auch Essen – kalkuliert mit einem Zinssatz von 6,52 Prozent, ein Durchschnittswert aus den Renditen festverzinslicher Wertpapiere der letzten 50 Jahre, zuzüglich Zuschlag.
Ein allzu üppiger Schluck aus der Pulle, fand jetzt das OVG, strich den Zuschlag und schraubte die Rendite-Rückschau auf nur noch zehn Jahre herunter. So landete man bei 2,42 Prozent – gerade mal ein gutes Drittel des alten Wertes.
Was die Korrektur den Bürgern in Euro und Cent bringt, ist noch nicht raus
Bei Gericht räumt man ein, dass die Städte all die Jahre im Prinzip nach Recht und Gesetz gehandelt hätten. Seit 1994 war diese Rechtsprechung gang und gäbe, geändert habe sich jetzt nur die Auffassung der Richter.
Was die Korrektur der nach wie vor komplizierten Kalkulation nun für das Portemonnaie der Essener Bürgerinnen und Bürger bedeutet, ist noch nicht raus: Das Oberverwaltungsgericht hat eine Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen kann die Stadt Oer-Erkenschwick allerdings Beschwerde einlegen, über die dann das Bundesverwaltungsgericht entscheiden müsste. Stadtkämmerer Gerhard Grabenkamp kündigte am Mittwoch an, zunächst die Urteilsbegründung aus Münster abwarten zu wollen.
Gerade mal eine Handvoll Essenerinnen und Essener können Rückzahlungen erwarten
Sonderliche Eile besteht nämlich nicht: Wie Grabenkamp betont, gilt für alle rechtskräftigen Gebührenbescheide des laufenden Jahres auch die alte Kalkulation – Entwässerung inklusive. Chancen auf eine Rückerstattung hat nur jene Handvoll Bürger, die gegen den Bescheid für 2022 vorgegangen waren.
In Zukunft aber profitieren alle – und im Stadt-Etat drohen neue Löcher. Denn zum einen darf die Stadt nicht im alten Umfang Gebühren kassieren, zum anderen muss die mit der Entwässerung betraute Stadtwerke-Tochter EEG einen deutlichen Gewinnrückgang verbuchen. (Aktenzeichen: 9 A 1019/20; I. Instanz: VG Gelsenkirchen 13 K 4705/17).